»Jacob und Wilhelm – Weltenwandler« – Kevin Schroeder & Marc Schubring im Interview

Wie man mit der Kraft der Fantasie Ängste überwinden kann

Wilhelm & Jacob Grimm (Peter Lewys Preston & Jonas Hein) aus dem Musical Jacob und Wilhelm - Weltenwandler. Wilhelm & Jacob Grimm (Peter Lewys Preston & Jonas Hein) aus dem Musical Jacob und Wilhelm - Weltenwandler. Foto: Sabine Dries Foto: Sabine Dries

Wilhelm & Jacob Grimm (Peter Lewys Preston & Jonas Hein) aus dem Musical Jacob und Wilhelm – Weltenwandler. 
Foto: Sabine Dries

United Musicals: Wie haben Sie beiden sich kennengelernt? Wann haben Sie das erste Mal zusammengearbeitet?

Kevin SchroederFoto: Brüder Grimm Festspiele

Kevin Schroeder
Foto: Brüder Grimm Festspiele

Kevin Schroeder: Wir kennen uns zwar schon sehr lange, aber als Autorenteam sind wir noch jung. Es ist jetzt das 2,5. Projekt – eigentlich das Zweite, aber das davor ist noch nicht raus: »Das tote Pferd von Plön«.
Kennengelernt haben wir uns, als ich damals mit der »schreib:maschine« begonnen habe. Ich habe zu verschiedenen Autoren Kontakt gesucht und dabei auch Marc in Pankow besucht. Wir hatten sehr nette Gespräche und Marc war auch auf der ersten »schreib:maschine« gleich mit dabei, um das Projekt zu unterstützen.

Marc Schubring: Ein großartiges Projekt!

KS: Die erste Gelegenheit, zusammenzuarbeiten, war dann »Vom Fischer und seiner Frau« in Hanau.

UM: Waren es die Brüder Grimm Festspiele, die nach dieser erfolgreichen Produktion von 2017 direkt wieder angefragt haben? Oder haben Sie beide eine gemeinsame Arbeit angestrebt?

Marc SchubringFoto: Brüder Grimm Festspiele

Marc Schubring
Foto: Brüder Grimm Festspiele

MS: Sowohl als auch. Nach dem »Fischer« hatte ich ein Gespräch mit dem Intendanten Frank-Lorenz Engel. Ich sagte ihm, dass ich für Hanau gerne ein Musical über die Brüder Grimm machen würde.

Der Intendant fand diesen Blickwinkel auf das Märchenthema spannend und es war auch ihm und mir sehr schnell klar, dass es mit Kevin sein musste. Kevin war es vielleicht nicht so schnell klar, oder doch?

KS: (lacht) Doch auch. Weil der »Fischer« so eine schöne Arbeit war, nicht nur vom Ergebnis und der Resonanz her, sondern auch von der Zusammenarbeit selbst her. Da war es ohnehin klar, dass wir wieder etwas Gemeinsames machen wollen. Manchmal ist es ja so, dass man etwas schreiben will und nach der richtigen Bühne dafür sucht. In diesem Fall war diese gleich vorhanden. Deshalb ist das Grimm-Musical direkt unser Folgeprojekt in Hanau.

UM: Was bedeutet Ihnen die Arbeit für die Brüder Grimm Festspiele Hanau? Was charakterisiert diese?

KS: Meine erste Arbeit für Hanau war 2010 eine »Schneewittchen«-Adaption. Zugleich war es eine meiner ersten Musical-Uraufführungen. Die Festspiele gibt es jetzt ja schon 35 Jahre. Mit dem neuen Intendanten Frank-Lorenz Engel ist vor einigen Jahren noch mal neuer Schwung hineingekommen. Ich habe zu einem Teil miterlebt, wie die Festspiele gewachsen sind und sich von einer anfangs Leidenschafts-Sommerwiesen-Bühne zu einer semiprofessionellen und jetzt zu einer absolut professionellen Sommerspielstätte entwickelt haben. Das zeigt sich natürlich auch an den Möglichkeiten, was das Schreiben betrifft. Man hat immer besondere Gegebenheiten, was das Bühnenbild angeht, da sich dieses mit zwei, manchmal sogar drei anderen Stücken geteilt wird. Dann war der »Fischer« das erste Stück, bei dem wir Live-Musiker auf der Bühne hatten. Das ist natürlich ein riesiger Vorteil, nicht nur weil es fürs Publikum viel schöner ist, sondern auch weil es beim Schreiben noch mal andere Möglichkeiten bietet.
Mir persönlich macht es auch besonders viel Spaß, zu schauen, was hinter den Märchenstoffen steckt. Man hat zwar eine Vorlage, aber gleichzeitig ausreichend Freiraum, sich darin zu entfalten und seinen eigenen thematischen Schwerpunkt zu setzen. Märchen lassen sich gut verwenden, um eine Botschaft zu transportieren. Auch deshalb mag ich diese Märchen- und Fantasie-Thematik.

MS: Für mich ist darüber hinaus das Tolle an den Brüder Grimm Festspielen, dass es eine der wenigen Bühnen ist, die jedes Jahr Uraufführungen bringt – vor allem jedes Jahr eine Musical-Uraufführung macht. Für alle Autoren, die jetzt schreiben und schreiben werden, gibt es nicht so viele Chancen, eine eigene Uraufführung zu erleben. Hier gibt es jährlich die Möglichkeit, sich auszuprobieren und zu lernen, weil man mit tollen Leuten zusammenarbeiten kann. Ich kann das nur wärmstens empfehlen.

Amphitheater AußenansichtFoto: Brüder Grimm Festspiele

Amphitheater Außenansicht
Foto: Brüder Grimm Festspiele

UM: Ist es nicht gleichzeitig auch ein wenig schade, dass hier so tolle Stücke entstehen, die kein Fortleben besitzen? »Vom Fischer und seiner Frau« ist eine der wenigen Ausnahmen, die auf anderen Bühnen nachgespielt wurden. Mein erstes Stück von Kevin Schroeder war 2011 »Ali Baba und die vierzig Räuber«, und die ganze Familie war begeistert. Meine Nichten haben noch ein ganzes Jahr die Songs mit den witzigen Texten rauf- und runtergesungen. So schön jedes Jahr eine Uraufführung ist, so schade ist es um gute Stücke, die dabei entstehen.

MS: Es wäre sicher auch reizvoll, nach 3 oder 4 Jahren ein Stück mal wieder hervorzuholen, zu überarbeiten und es neu auf die Bühne zu bringen. Allerdings muss dieses Stück in dem entsprechenden Jahr vom Bühnenbild und den Kostümen her zu den anderen Stücken passen. Das ist nicht ganz einfach. Und natürlich könnte ein schönes Stück wie »Ali Baba« nachgespielt werden. Leider sagen viele Theater: »Ach, das ist ja Märchen. Das machen wir lieber selbst, dann müssen wir das nicht zahlen.« Sie setzen dann jemanden für wenig Geld oder einen Hobby-Schreiber daran. Auf das Thema Märchen wird oft herablassend geblickt und das ist schade.

UM: Anlässlich des 35. Geburtstags der Brüder Grimm Festspiele passt ein Stück über die Brüder Grimm sehr gut. Was ist die Geschichte?

StückmotivFoto: Julian Freyberg

Stückmotiv
Foto: Julian Freyberg

KS: Rein äußerlich ist es eine spannende Abenteuergeschichte der Brüder Grimm. Es geht um die Entstehungsgeschichte ihrer »Kinder- und Hausmärchen«. Wir beginnen damit, dass das ganze Projekt zum Scheitern verurteilt ist und die beiden im Streit auseinandergehen. Letztendlich müssen beide eine gemeinsames Abenteuer erleben, das die »Kinder- und Hausmärchen« erst möglich macht. Diese Geschichte erleben sie zum einen eingebettet in den historischen und biographischen Kontext mit den Aufenthalten in Kassel und Marburg. Zum anderen erleben sie diese in einer Märchenwelt, die sie – mit ihrer Märchensammlung – vor dem Vergessenwerden retten müssen. Über dieses gemeinsame Erlebnis finden beide wieder zusammen und schreiben Weltgeschichte. Sie werden zu den beiden Brüdern, die in Bronze gegossen auf dem Hanauer Marktplatz stehen.

UM: Welches Thema wollen Sie mit der Geschichte transportieren? Und wie gehen Sie beim Schreiben vor?

KS: Mit »Jacob und Grimm« wollten Marc und ich über Märchen, Träume und Fantasie schreiben. Bevor das erste Wort geschrieben ist, nehme ich mir nicht unbedingt vor: darum soll es jetzt gehen. Es gibt Themen, die mich anziehen, aber ich bin gerne beim Schreiben am Entdecken. Das Handwerk, welches das Ganze in die Form bringt, bildet das kontrollierende Element. Trotzdem versuche ich erst einmal, mit den Figuren die Geschichte zu entdecken.
Für mich ist es ein Stück, in dem es darum geht, wie man mit der Kraft der Fantasie und der Märchen die Ängste, die uns allen in den verschiedenen Lebensbereichen Grenzen setzen, überwinden kann. Für das Programmheft habe ich einen Text geschrieben, in dem ich Märchen »ein probates Heilmittel für die Enge im Kopf« genannt habe: Hinter den Märchen, die häufig – wie Marc sagt – als »Kinderkram« abgetan werden, steckt so viel mehr, wenn man sich darauf einlässt.

MS: Das Gleiche gilt übrigens auch für Musicals. Auf diese wird oft genauso herabgesehen wie auf Märchen, die unter Kinderliteratur abgehakt werden. Ich persönlich empfinde jedoch weder Märchen noch die sogenannte Kinderliteratur als etwas nur für Kinder. Man sieht es auch an den Stücken, die ich bisher geschrieben habe – Geschichten, die uns auch als Erwachsene und wahrscheinlich noch als Senioren beschäftigen. Ich glaube auch, wenn jemand im Sterben liegt, erinnert er sich hauptsächlich an die Kinderliteratur, die er in seiner Jugend gelesen hat und welche Türen diese ihm geöffnet hat.

UM: So werden Musicals oftmals als nette Unterhaltung für einen Abend abgetan und können doch viel mehr sein.

MS: Ich empfinde es aber auch, dass ein Großteil der Musicals reine Unterhaltung sind. Ich persönlich stelle gerne Fragen. Das Publikum darf gerne mit Fragen nach Hause gehen, es muss nicht alles beantwortet werden. Doch das geschieht für mich in vielen deutschen Musicals. Dabei meine ich nicht Musicals, die in deutscher Sprache geschrieben werden, sondern diejenigen, die aus dem Ausland in Deutschland auf die Bühne kommen und mehrere Monate spielen. Da ist alles beantwortet. Das sind dann für mich eher Kinderstücke

Bühnenbild von Tobias Schunck mit EnsembleFoto: Hendrik Nix /

Bühnenbild von Tobias Schunck mit Ensemble
Foto: Brüder Grimm Festspiele / Hendrik Nix

UM: Wenn man Märchen gelesen sowie Musicals und Filme, die mit Märchentraditionen spielen – wie etwas Stephen Sondheims und James Lapines »Into the Wood« sowie »Grimm!« oder »Once Upon a Time« – ist einem das Spiel mit Märchentraditionen nicht fremd. Welche Rolle erfüllt das Spiel mit Märchentraditionen in Ihrem Musical?

KS: Wie Sie sagten, gibt es das Spiel mit Märchentraditionen auch in anderen Musicals. Einerseits wollten wir natürlich originell sein und nichts kopieren, andererseits an der ein oder anderen Stelle liebevoll damit spielen. So haben wir mal kurz im Text »Into the Woods« oder »The Wizard of Oz« zitiert. Mit dem Bewusstsein dieser Märchen- und Fantasie-Traditionen ist das Werk in jedem Fall entstanden. Darüber hinaus gibt es einen Punkt, der unserem Stück Originalität gibt: das Bewusstsein, dass die Märchen, die die Grimm-Brüder damals gesammelt haben, selbst in einer Tradition stehen. Viele Märchen, die damals in überarbeiteter Form in den »Kinder- und Hausmärchen« herauskamen, hatten Vorläufer in Frankreich und Italien. Das wird auch im Musical thematisiert. Es gibt Figuren, die noch nicht den Figuren entsprechen, wie wir sie heute von Disney präsentiert bekommen, sondern in ihrer Urfassung ganz woanders herkommen. Sie werden von den Grimms erst zu dem gemacht, was sie heute sind. Zu Beginn, als die »Kinder- und Hausmärchen« herauskamen, wollte das niemand lesen. Erst als sie sprachlich angepasst wurden und dem damaligen Zeitgeist entsprachen, entwickelten sie sich zu einem Erfolg. All diese Punkte greifen wir auch im Stück auf.

Das Ensemble von »Jacob und Wilhelm - Weltenwandler« Personen: Claudio Gottschalk Schmitt (Dummling), Maria-Danae Bansen (Thalia), Nikko Forteza (Froschkönig), Jonas Hein (Jacob Grimm), Peter Lewys Preston (Wilhelm Grimm), Katharina Beatrice Hierl (Rapunzel), Laura Pfister (Dortchen Wild), Johanna Haas (Bohne/Sterntaler), Janne Marie Peters (Marie Hassenpflug), Luisa Rhöse (Fischerin), Lukas Haiser (Der böse Wolf)Foto: Brüder Grimm Festspiele / Hendrik Nix

Das Ensemble von »Jacob und Wilhelm – Weltenwandler«
Personen: Claudio Gottschalk Schmitt (Dummling), Maria-Danae Bansen (Thalia), Nikko Forteza (Froschkönig), Jonas Hein (Jacob Grimm), Peter Lewys Preston (Wilhelm Grimm), Katharina Beatrice Hierl (Rapunzel), Laura Pfister (Dortchen Wild), Johanna Haas (Bohne/Sterntaler), Janne Marie Peters (Marie Hassenpflug), Luisa Rhöse (Fischerin), Lukas Haiser (Der böse Wolf)
Foto: Brüder Grimm Festspiele / Hendrik Nix

MS: Für mich ist das Thema Tradition generell ein sehr wichtiges. Ich habe es nie als Einengung empfunden. Es ist das, wo wir herkommen und was wir weiterentwickeln. Das gilt für die Brüder Grimm wie für alle Geistesgrößen. Es gilt auch für uns Autoren: Wir sind beeinflusst von etwas, nehmen dieses auf, haben unser eigenes Sieb, durch das es geht, und dann kommt etwas Originelles heraus – das, was wir daraus machen. Für mich gibt es keine Revolution in der Kunst, sondern es ist immer eine Evolution und diese beruht auf Tradition.

UM: Welche musikalischen Welten erwartet das Publikum im Musical?

MS: Das ist etwas komplex. (lacht) Ich kenne mich ganz gut in der Musik um 1812 aus, dem Jahr, in dem das Ganze in der Welt der Brüder Grimm spielt – mit der späten Wiener Klassik und der frühen Romantik der Musikgeschichte. Unser kleines Orchester hilft natürlich dabei, diese Klangwelt entstehen zu lassen, zumal in dieser Zeit die Kammer- und die Hausmusik eine große Rolle gespielt hat. So haben wir auf der einen Seite eine Kammer- und Hausmusik des frühen 19. Jahrhunderts, gefiltert durch die Dramaturgie. Ich zitiere dabei nirgendwo, sondern nehme die Musik des frühen 19. Jahrhunderts und mache sie zu meiner eigenen, um der Geschichte zu dienen, in diesem Fall der Geschichte um 1812 und den Charakteren. Auf der anderen Seite haben wir die Musik in der Fantasie- und Märchenwelt, die durchaus heutiger ist. Diese Seiten prallen aufeinander, denn wenn die Brüder Grimm auf die Märchenwelt treffen, werden sie auch von dieser Musik beeinflusst. Sie adaptieren sie und entwickeln sie musikalisch weiter. Das wird stürmisch. (lacht) Mit der Märchenwelt schaffe ich einen bewussten Kontrast, hier kommt die Musik unterhaltender daher. Das Thema Unterhaltung ist übrigens eines, das mich auch interessiert. Denn die Brüder Grimm sind ja als Geisteswissenschaftler, erst Juristen, dann maßgebliche Literaturwissenschaftler. Die Märchen sind dabei ein Seitenzweig ihres Schaffens, gar nicht ihr Hauptwerk – das sind die »Deutsche Grammatik« und das »Deutsche[s] Wörterbuch«. Diesen E- und U-Charakter fand ich sehr spannend, und wie dann beide Welten zusammenkommen. Übrigens ist das auch ein urdeutsches Thema, denn in keinem anderen Land der Welt – zumindest ist mir keines bekannt – ist diese Trennung immer noch so stark in der Tradition verwurzelt wie in Deutschland. Das verhindert wiederum, dass man sich mit der sog. Unterhaltungsmusik ernsthaft auseinandersetzt, aber genauso, dass man sich mit der Klassik wirklich auseinandersetzt. Beides bedingt sich, aber das ist vielen nicht bewusst: »Unterhaltungskomponisten« kommen aus der Klassik, das war und wird immer so sein. Ein Gershwin ebenso wie ein Bernstein haben ganz klassisch gelernt. Ich persönlich stimme Kurt Weill zu: »Es gibt nur gute und schlechte Musik.« Doch in »Jacob und Grimm« zerre ich E- und U-Musik etwas auseinander, um sie dann wieder zusammenzubringen zu einer weiterentwickelten Komposition.

Jacob Grimm und die Märchen Personen: Jonas Hein (Jacob Grimm), Maria-Danae Bansen (Thalia), Luisa Rhöse (Fischerin), Janne Marie Peters (Zwerg), Claudio Gottschalk-Schmitt (Dummling), Lukas Haiser (Der böse Wolf), Nikko Forteza (Froschkönig), Laura Pfister (Zwerg)Foto: Brüder Grimm Festspiele / Hendrik Nix

Jacob Grimm und die Märchen
Personen: Jonas Hein (Jacob Grimm), Maria-Danae Bansen (Thalia), Luisa Rhöse (Fischerin), Janne Marie Peters (Zwerg), Claudio Gottschalk-Schmitt (Dummling), Johanna Haas (Sterntaler), Lukas Haiser (Der böse Wolf), Nikko Forteza (Froschkönig), Laura Pfister (Zwerg)
Foto: Brüder Grimm Festspiele / Hendrik Nix

UM: Wie entsteht aus Musik und Text – Text und Musik bei einem solchen Projekt eine Einheit?

KS: Mit Marc ist die Zusammenarbeit besonders schön, was den ganzen Prozess unterhaltsam macht. Es ist sehr wichtig, dass man mit jemandem schreibt, mit dem man auch gerne zusammensitzt und über das Ganze spricht, anstatt fertige Musik und fertige Texte hin- und herzuschicken. Am Anfang steht die Phase, in der man ganz viel über die Handlung, über die Figuren spricht. Das geht bis zu Inszenierungsideen und Bühnengestaltung, die wir auch in unserem Kopf entwickeln. Zumindest eine Grundidee gibt es, über die man dann im Team ganz offen spricht und die sich dann natürlich auch noch mal verändern kann.
Nach dem intensiven Austausch schreibe ich dann meistens erst mal ein Treatment – eine ungefähre Szenenfolge, anhand derer wir dann die Songmomente und im Idealfall auch schon Titelideen für die jeweiligen Songs festlegen. Ich schreibe dann ein Layout für die jeweilige Szene, teilweise schon dialogisch ausformuliert, manchmal erst als Konzept, wie der Song aufgebaut sein könnte. Dann schreibt Marc die Musik, ich wiederum Text darauf und wenn wir dann eine erste Fassung haben, geht es auf beiden Seiten ans Verfeinern. Manchmal habe ich dann noch Wünsche, ob die Musik an der ein oder anderen Stelle etwas anders sein kann. Das sind Dinge, die man erst später im Gesamtablauf merkt. Habe ich etwas vergessen, Marc?

MS: Nein, ich kann das nur unterstreichen: Ich kenne ja einige Leute und ich will mit keinem Partner beim Arbeiten vergleichen, aber mit Kevin ist es wirklich eine Freude, weil wir wunderbar auf Augenhöhe kommunizieren, Spaß haben am Schreiben und am Ideen spinnen.

UM: Muss man aus dem Genre kommen, um treffend und mit dem richtigen Timing Texte auf Musik zu schreiben? Wie war das bei Ihnen, Kevin Schroeder?

KS: Ich habe in der Tat in Hamburg Tanz-, Gesang und Schauspiel studiert und auch zwei Jahre als Darsteller gearbeitet. Doch ich habe mich relativ schnell aufs Texten gestürzt und mich darauf konzentriert.
Viele sagen, mein Werdegang sei eine Voraussetzung, um Text auf Musik zu schreiben. Ich denke das nicht, auch wenn es für mich der richtige Weg war. Ich habe ein gutes Gefühl für das Zusammenspiel von Text und Musik, war aber nie der größte Sänger. Ich komme eigentlich eher vom Tanzen und ich spiele sehr gerne. Es ist viel Learning by Doing, auch ein Gefühl für die Musik zu bekommen kann man lernen. Die ersten Texte, die ich geschrieben habe, waren – obwohl ich da noch viel näher dran am Singen und der Bühnenperformance war – nicht so gut, wie sie heute sind. Die Arbeit an den Stücken mit verschiedenen Komponisten und auch mit Sängern, mit denen man ja auch in den Proben arbeitet, lässt einen immerzu lernen und besser werden. Mir hilft sicher persönlich, dass ich weiß, wie es ist, als Schauspieler auf der Bühne zu stehen, aber ich bin sicher, es gibt auch ganz andere Wege, um ein guter Liedtexter zu werden. Ich halte es nicht für eine unbedingte Voraussetzung, sofern man ein gutes Ohr hat. Es ist vor allem eine Erfahrungssache. Ich selbst bin erst verhältnismäßig spät zum Theater gekommen, auch wenn ich vorher schon viel getanzt habe. Kurz bevor ich die Ausbildung in Hamburg begonnen habe, hatte ich keine Theaterkarriere im Sinn. Und das mit dem Texten war zu Beginn auch nicht geplant, sonst hätte ich die Ausbildung als Bühnendarsteller möglicherweise gar nicht gemacht. Das hat sich so über Möglichkeiten, Lust und Spaß am Ausprobieren ergeben. Man merkt, dass einem das leichter von der Hand geht als anderen und es gehen auf einmal Türen auf. Erfahrung – egal auf welchem Weg – ist das, was es am Schluss schleift und besser macht.

UM: Wird es im Stück Underscore-Musik geben?

MS: Die Idee ist bei mir immer durchkomponiert. (lacht) Es handelt sich zwar um ein Song-Musical, aber es hat eine ganze Menge Underscore. Ich mag das generell sehr und speziell auf einer Freilichtbühne, wo es sehr viele Faktoren der Ablenkung gibt, ist es unerlässlich. Je mehr ich als Komponist Einfluss darauf nehmen kann, dass die Leute in der Geschichte bleiben, und dazu zählt natürlich auch die Hintergrundmusik, mache ich das. Aber es muss immer einen Grund dafür geben, dass Underscore da ist, er darf kein Beiwerk sein.

UM: Warum sollte man sich in Hanau Ihr neues Werk »Jacob und Wilhelm – Weltenwandler« unbedingt anschauen?

MS: Das Stück ist auf kulinarische Weise komplex. Es hat ganz verschiedene Ebenen, ganz viele Geschichten, die man sich da herausziehen kann: persönliche Geschichten, aber auch die Historie von Kunst, Literatur und Fantasie – fast philosophische Themen. Das mochte ich schon an unserem »Vom Fischer und seiner Frau« so sehr: Es handelt sich nicht einfach um die Nacherzählung eines Märchens, sondern das Stück schafft es offenbar, dass man sich mit Figurenkonstellationen identifiziert, etwas für das eigene Leben mitnimmt und mit Fragen an die eigene Lebenssituation rausgeht.
Das gilt meines Erachtens auch für »Jacob und Wilhelm«. Es hat einen ungeheuren Unterhaltungswert, auch für ein jüngeres Publikum. Doch es werden auch Themen behandelt, die über die reine Unterhaltung hinausgehen, die einen weiter beschäftigen.

KS: Mein Gefühl ist, dass wir ein Superteam zusammenbekommen haben, in dem jeder Lust hat, diese Idee – das Thema ist: Fantasie – auf allen Ebenen umzusetzen. Das ist das, was auch in der Handlung geschieht: Diese beiden schrägen, verkopften Bücherwürmer, wie man sie auch historisch eher erwarten würde, werden mit einer Welt, die aufgeht und die viele überraschen wird, konfrontiert. Wir schaffen es, eine berührende, ganz liebevoll fantastisch bunte Märchenwelt dahin zu zaubern, die sich natürlich auch auf die Welt der Grimm-Brüder auswirkt. Ich glaube, es wird viel Spaß machen und berühren. Die Liebe für Märchen, für das Träumen wird die Menschen berühren.

Die Brüder Grimm Personen: Jonas Hein (Jacob Grimm) und Peter Lewys Preston (Wilhelm Grimm)Foto: Brüder Grimm Festspiele / Hendrik Nix

Die Brüder Grimm
Personen: Jonas Hein (Jacob Grimm) und Peter Lewys Preston (Wilhelm Grimm)
Foto: Brüder Grimm Festspiele / Hendrik Nix

UM: Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft des Musicals in Deutschland?

MS: Wir machen das ja nun schon ein paar Jahre und ich finde, es wird nicht unbedingt einfacher. Es liegt unter anderem auch am Feuilleton. Die Leute kennen sich nicht aus. Wenn sie es ernst nehmen würden, dann wüssten sie – ich komme hier noch mal auf das Thema Traditionen zurück –, es ist kein eindeutig amerikanisches oder britisches Genre. Das Genre Musical ist aus vielen verschiedenen Welten zusammengekommen: angefangen von der Oper und Operette, die europäische Genres sind, dann dem Vaudeville, dem Jazz und dem Schauspiel. Zu guter Letzt hat auch das Kino einen großen Einfluss auf das Musical – vor allem hinsichtlich der Optik, der cineastischen Inszenierungen. Dann werfe ich noch mal einen Blick zurück auf das, was wir vor dem Nationalsozialismus hatten: wunderbare Komponisten und Autoren, tolle und witzige Texter. Weil wir keine Tradition mehr haben, weil diese durch die Nationalsozialisten abgeschnitten worden ist, wurde dieses Talent nicht weitergegeben. Leute wie Kurt Weill sind nach Amerika gegangen und haben dort Einfluss auf die Entwicklung des Musicals genommen, aber nicht mehr hier. Leider schauen Intendanten und Produzenten – nicht nur das Feuilleton – darauf auch nicht. Dabei können sie ihren Kulturauftrag auch mit Musicals erfüllen. Natürlich gibt es kommerzielle Musicals, wobei Kommerzialität auch so ein komisches Thema ist. Als Autoren haben wir alle erst einmal ein weiße Blatt vor uns. Natürlich freuen wir uns – welcher Künstler tut das nicht – wenn wir nachher zahlreiche Zuschauer haben, die das Stück sehen wollen. Das gilt genauso für Oper und Schauspiel.

KS: Es ist ein Thema, was einen immer überall verfolgt. Man verfällt gerne ins Lamentieren, weil es einem in allen Bereichen und bei vielen Kollegen begegnet. Dadurch, dass das Musical in einer solchen Sparte sitzt, mit all ihren Einschränkungen, macht es das für die Kollegen, die ernsthaft die Sache verfolgen, ziemlich schwierig. Letztendlich ist es dann eine kleine Nische. Vieles kommt aus dem Ausland und die Möglichkeiten, wenn man deutsches Musical schreiben möchte, Erfahrungen zu sammeln – hier kommt auch das Thema »schreib:maschine« wieder ins Spiel –, sich auszuprobieren, sind fast nicht existent. Viele Produzenten und Intendanten suchen dann natürlich für die größere Bühne etablierte Kollegen – was irgendwie auch verständlich ist – und setzen auf vermeintlich sichere Pferde. Dass ich das heute so machen kann, wie ich es mache, hat auch damit zu tun, dass ich lange Zeit vieles für wenig Geld geschrieben oder Produktionen sogar mit eigenem Geld angestoßen habe. Beispielsweise habe ich eines meiner ersten Stücke »Die Tagebücher von Adam und Eva« mit dem Komponisten Marc Seitz in Berlin selbst produziert. Da haben wir aus eigener Tasche viel drauf gezahlt, auch wenn es rückblickend ein wichtiger Schritt war, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Doch es kann nicht der Weg sein, dass die Autoren immer alles selbst bezahlen müssen.

Damit komme ich noch mal auf Hanau zurück und auf das, was auch Marc schon sagte. Das ist eine der wenigen professionellen Spielstätten, wo Autoren Erfahrung sammeln können. Dann nehme ich auch in Kauf, dass dort jedes Jahr Uraufführungen stattfinden. Gerade in den letzten Jahren hat es noch mal einen Schub gegeben an Professionalität. Solche Bühnen müsste es mehr geben und das Ganze vielleicht im Vorfeld noch auf einer kleineren Ebene wie den »Creators«-Wettbewerb oder ähnliches. Denn ich kenne viele Autoren, die nicht einfach alles in eine Waagschale werfen können. Als Künstler hat man es in keinem Bereich leicht. Doch ich denke schon, dass hinsichtlich der Wahrnehmung des Genres ein gewisses Ungleichgewicht herrscht. Ich würde mich freuen, wenn gerade an subventionierten Theatern mehr möglich wäre.

UM: Alles Gute für die Uraufführung am 10. Mai 2019 und alle folgenden Vorstellungen von »Jacob und Wilhelm – Weltenwandler«. Vielen Dank für den intensiven Einblick in Ihre Arbeit, das heitere und ehrliche Gespräch!