»Diese Version wird ein Eigenleben entwickeln.« Interview mit Lynn Ahrens zu »Ragtime: The Symphonic Concert«

Lynn Ahrens
Foto: Neil Costa

In der Woche nach dem »Ragtime«-Konzert beim Tanglewood Festival in Stockbridge, Massachusetts (USA) an einem Samstagabend im Juli sprach Dan Dwyer mit der Librettistin Lynn Ahrens über die sinfonische Version des Stücks. Ahrens, die zusammen mit dem Komponisten Stephen Flaherty 1998 einen Tony Award für »Ragtime« in der Kategorie »Best Original Score for a Musical« gewann, erzählt uns, wie die konzertante Version zustande kam und berichtet von ihrer Zusammenarbeit mit Terrence McNally, der für dieses Stück den Tony in der Kategorie »Best Book of Musical« gewann. McNally starb 2021 an Corona.

Dan Dwyer: Herzlichen Glückwunsch. Das Konzert war einfach überwältigend.

Lynn Ahrens: Danke. Es war ein wunderbarer Abend in vielerlei Hinsicht. Ich habe das Gefühl, dass die Show jetzt ihre eigentliche Form gefunden hat. Sie hat über die Jahre an Bedeutung und Ausdruckskraft gewonnen. Das Konzert in Tanglewood war einfach nur spektakulär.

DD: Wie kam die Neuorchestrierung von »Ragtime« zustande?

LA: Wir, Stephen Flaherty und ich, sind alte Freunde des Boston-Pop-Orchesters. Sie haben uns schon mehrere Kompositionsaufträge erteilt, unter anderem »With Voices Raised« für ihr Chor- und Orchesterprogramm, das am Nationalfeiertag im Jahr 2000 im Boston Commons Park uraufgeführt wurde. Das Orchester legt Wert darauf, gesellschaftlich relevante und bedeutsame Projekte aufzuführen, und dem Chefdirigenten Keith Lockhart war es wichtig, »Ragtime« zu machen. Wegen COVID-19 wurde das Projekt verschoben, und leider starb Terrence (McNally) daran. Diese Konzertversion war meine letzte Zusammenarbeit mit ihm.

Lynn Ahrens und Stephen Flaherty
Foto: Morris Mac Matzen

DD: Wie schwierig war es, ein abendfüllendes zweiaktiges Musical in eine Konzertversion umzuarbeiten?

LA: Terrence und ich haben uns erst einmal hingesetzt, um die normalerweise zweieinhalb Stunden lange Show auf Konzertlänge einzudampfen. Es war gar nicht so leicht zu entscheiden, was für ein sinfonisches Werk funktionieren würde und was nicht. Wir haben ein paar längere Action-Szenen gestrichen, die in einem konzertanten Rahmen sowieso nicht funktioniert hätten. Es ist ein bisschen so, als wenn man einen Anzug neu anpassen muss, nachdem man abgenommen hat – man muss sehr vorsichtig sein. Und dann haben Terrence und ich ein neues Szenario erstellt, das die Hauptsongs miteinander verband.
DD: … und sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?

LA: Oh ja. Leider hat Terrence es nie zu sehen bekommen, denn in Tanglewood haben Stephen (Flaherty) und ich diese Version zum ersten Mal gemacht. Es gibt ein paar kleinere Sachen, die wir wahrscheinlich wieder hinzufügen werden, um die Nebencharaktere, die notwendigerweise sehr viel von ihrem Material verloren haben, wieder etwas mehr auszugestalten. Aber alles in allem waren Stephen und ich total happy mit dem überarbeiteten Buch.

DD: Wie anders klang es?

LA: Die originale Broadway-Orchestrierung war für 25 oder 26 Instrumente, was schon riesig ist verglichen mit heutigen Broadwayshows, wo man vielleicht vier Streicher und ein paar Synthesizer hat. Aber wenn man es von einem vollen Sinfonieorchester gespielt hört, ist man sowohl als Publikum als auch als Aufführender total überwältigt von der Schönheit einer vollen Streichergruppe oder der Kraft einer ganzen Hornistengruppe. Das Orchester in Tanglewood war musikalisch wie soundmäßig einfach nur überwältigend.

DD: Waren Sie am Casting für die Konzertversion beteiligt?

LA: Ja, Stephen und ich wussten, wen wir wollten, daher haben wir dem Orchester erklärt, wen sie besetzen sollten. Wir kennen und lieben diese Darsteller:innen und haben mit vielen von ihnen schon gearbeitet. Es war eine tolle Besetzung. Jeder der Darsteller:innen erfüllte unsere Erwartungen und ging dann darüber hinaus.

DD: Wie sieht die Zukunft aus für diese Konzertversion von »Ragtime«?

LA: Es waren mehrere Chefdirigenten und Intendanten von anderen Orchestern in Tanglewood, die es ganz toll fanden und Interesse ausgedrückt haben, es mit ihren Orchestern aufzuführen. Ich glaube definitiv, dass diese Version ein Eigenleben entwickeln wird. Es ist ein weiterer Weg, die wichtige Botschaft von »Ragtime« weiterzuverbreiten und einem neuen Publikum nahezubringen.

DD: Ist »Ragtime« heute relevanter als bei seiner Broadway-Premiere 1997?

LA: Das Interessante an der Show ist, dass sie ihre Bedeutung verändert hat über die Jahre, weil sich die Politik und Amerika verändert haben. Die Show scheint immer die aktuelle Zeit zu spiegeln. So gab es zum Beispiel ein Revival 2009, als Präsident Obama sein Amt antrat. Es war eine wundervolle Zeit voller Optimismus. Am Ende der Show, als das kleine schwarze Kind von Coalhouse Walker Jr. und Sarah in die Arme seiner Mutter rannte, sprang das Publikum tränenüberströmt auf, weil sie Obama in diesem Kind sahen. Heutzutage spiegelt die Show die furchtbaren Risse in unserem Land wider, die immer noch anhaltenden Probleme in Bezug auf die Rechte der Immigranten und der Frauen, bei »Black Lives Matter« und der #Me-Too-Bewegung – alles das illustriert die zyklische Qualität des Lebens in Amerika. Ich glaube, »Ragtime« schafft es, all diese Dinge einzufangen.

DD: Beim Schlussapplaus fand ich es besonders bezaubernd, als Sie herauskamen – Sie haben so fabelhaft gestrahlt! Was für ein Moment!

LA: Naja, wissen Sie, wenn ich da rausgehe, habe ich immer das Gefühl, dass ich keinen Plan habe, was ich tun oder sagen soll, ich bin wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Wir waren alle so glücklich über das tolle Orchester und die wundervolle Cast – und über einen Abend ohne Regen! Es war einfach einer der erinnerungswürdigsten Abende meines Lebens.

Konzert in Tanglewood: Lynn Ahrens in der Mitte, rechts von ihr Keith Lockhart, links Stephen Flaherty
Foto: Hilary Scott, courtesy of the BSO

Das Interview führte Dan Dwyer
Übersetzung Merit Murray