Spannend – Emotional – Relevant

Interview mit Titus Hoffmann zur Entstehung von
»Scholl - Die Knospe der Weißen Rose«

blickpunkt musical:  Wie kam es zu der Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Herrn Borchert, spezifisch auch zu diesem Thema?

Foto: privat

Titus Hoffmann: 2014 wurden Thomas und ich bei den 24-Stunden-Musicals in Ahrensburg als Komponist und Texter zusammengelost. Seit dieser intensiven und spannenden Erfahrung wollten wir immer etwas gemeinsam schreiben. Weil wir beide mit anderen Projekten beschäftigt waren, hat es noch etwas gedauert. Ich habe dann Thomas verschiedene Stoffe vorgeschlagen und ihm gefiel »Scholl« spontan am besten. Junge Menschen, die in der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte die Wahrheit nicht mehr verdrängen können und sich ihrem Gewissen stellen.

blimu: Können Sie uns schon mehr zu dem Inhalt verraten? Sophie Scholl lebte in einer dramatischen Zeit.

TH: Unsere Handlung erzählt sich aus der Perspektive von Traute Lafrenz-Page, Zeitzeugin und ehemalige Geliebte von Hans Scholl. Traute lebt heute in South Carolina und feiert im Mai ihren 104. Geburtstag.
D.h., wir spielen nicht das Narrativ der Filme als Musical nach. Unser Stück beleuchtet die Ursprünge der Weißen Rose und fokussiert dabei die Geschichte 14 Monate vor der schicksalshaften Flugblattaktion im Lichthof der Münchner Maximilians-Universität auf die Skiferien, die Traute, Hans, Sophie & Inge Scholl mit den Freunden Ulla Claudius und Wulfried (Freddy) Muth zum Jahreswechsel 1941/42 auf der Coburger Hütte in den Tiroler Bergen verbrachten. Quasi ein »Prequel« zu der schon durch zahlreiche Dramatisierungen bekannten Geschichte.

blimu: Bei den Protagonisten des Stücks handelt es sich gleichermaßen um Widerstandskämpfer, Freunde, Jugendliche – das gepaart mit dem zeitlichen Kontext bietet auf den ersten Blick viele Möglichkeiten, die Tonalität des Stücks anzulegen, für welche haben Sie sich entschieden?

TH: Das Libretto basiert auf wahren Begebenheiten, die Liedtexte sind durch Poesie und Aufzeichnungen der Protagonisten inspiriert worden. D.h., die Tonalität im inhaltlichen Sinne bezieht sich auf die persönlichen Beziehungen und die dadurch zu Tage tretenden Charaktereigenschaften der einzelnen Rollen und deren Entwicklung. Der erste Text, den Thomas in ein Lied verwandelte, war ein Gedicht von Hans Scholl. D.h., da spricht die historische Figur höchstpersönlich und setzt damit zuerst einmal eine sehr authentische Tonalität. Die erste Zeile – »Ich liebe es, am Abend Dir ein Lied zu singen …«, öffnet Hans‘ innere Gedankenwelt wie von selbst für Musik. Auch Traute, Sophie und deren Freunde waren alle sehr musikaffin. Bevor Sophie und Hans festgenommen wurden und all die dramatischen Ereignisse ihren Lauf nahmen, waren da zwar sehr nachdenkliche, sinnsuchende, aber eben auch lebenslustige Menschen, die gesungen haben, die verliebt, neugierig und jung waren. Um diese Facetten für ein heutiges Publikum zugänglich zu gestalten, hat Thomas eine eigene moderne Klangwelt (oder Tonalität) aus Pop, Rock, Jazz, aber auch klassischen Stilelementen geschaffen.

blimu: Welche Schwerpunkte werden in der Geschichte gelegt?

Foto: © Titus Hoffmann

TH: Traute war die letzte Person, die mit Sophie und Hans gesprochen hat, als die Geschwister den Lichthof der Maximilians-Universität in München betraten, um die Flugblätter zu verteilen, kurz bevor sie dann erwischt, innerhalb von 5 Tagen vom NS-Regime verurteilt und hingerichtet wurden. In unserer Geschichte erinnert sich Traute in diesem Zusammenhang speziell an den gemeinsamen Skiurlaub gut ein Jahr zuvor. In der Rückschau erst versteht sie, wie diese Erlebnisse in den Bergen später unweigerlich auf die Geschehnisse und die Aktionen des Widerstands hinführen mussten. Der gewählte Rahmen gibt uns Raum, die Gedichte und Aufzeichnungen der Protagonisten, die zu einem erheblichen Teil die Basis für unsere Songs bilden, zu platzieren und so Einblick in deren Gedanken und Charaktere zu ermöglichen. Dazu musste ich sehr viel und ausführlich recherchieren, u. a. im Scholl-Nachlass im Institut für Zeitgeschichte in München. Der Scholl-Biograph und -Historiker Dr. Robert M. Zoske hat außerdem den Entwicklungsprozess begleitet.

 

blimu: Sie haben damals die deutschsprachige Erstaufführung von »Next to Normal« am Stadttheater Fürth gemacht. War dies die Basis für die jetzige Zusammenarbeit?

TH: Das Stadttheater Fürth ist ein wunderschönes Haus von den berühmten Architekten Helmer und Fellner, die u. a. auch das Ronacher und das Volkstheater in Wien, das Salzburger Landestheater oder das Schauspielhaus in Hamburg kreierten. Die mittlere Größe gibt immerhin ca. 700 Zuschauern Raum, bleibt aber im Erleben fürs Publikum nah und intim am Bühnengeschehen, ähnlich wie die meisten Broadway- oder West-End-Theater.  Außerdem habe ich hier die Möglichkeit, frei zu produzieren. D.h., ich kann sowohl die Rollen als auch die Kreativen und die Musiker frei und kompromisslos besetzen. Der Intendant, Werner Müller, scheut nicht, neue Wege zu gehen und ungewöhnliche Stoffe auf die Bühne zu bringen. Das wunderbare Team des Stadttheaters schafft eine tolle Arbeitsatmosphäre. All das machte das Theater damals so attraktiv für die DSE von »Next to Normal« und wie auch jetzt wieder für »Scholl«. »Next to Normal« ist ein unkonventionelles Musical, welches nach dem Erfolg von Fürth in über 20 Nachfolgeproduktionen im gesamten deutschsprachigen Raum nachgespielt wurde. Mich erreichen darüber hinaus immer noch Nachrichten von zahlreichen Kollegen aus dem europäischen Ausland, die durch unsere Inszenierung inspiriert wurden, das Stück selbst in ihrer Sprache auf die Bühne zu bringen. Unsere deutsche Originalproduktion, wie sie später genannt wurde, hat sehr große Aufmerksamkeit bekommen. Also, ja »Next to Normal« ist unweigerlich die Basis für die jetzige Zusammenarbeit – aber ich denke »Scholl« wäre auch ohne diese Vorgeschichte zustande gekommen.

blimu: Wie war der Castingprozess? Auffällig ist, dass alle Darsteller wirklich den realen Vorbildern sehr ähnlich sehen.

Foto: © Titus Hoffmann

TH: Es war ein langwieriger Prozess. Es gab über 500 Bewerber, die zunächst einmal gesichtet, bei gewisser Eignung, recherchiert und gegoogelt werden mussten. Am Ende konnten wir nur eine begrenzte Zahl zur Audition einladen. Es gab zwei Runden und ein paar einzelne Nachholtermine. Für Thomas war es wichtig, dass wir uns für die eingeladenen Kandidaten entsprechend Zeit nehmen konnten, weiß er doch selbst am besten, wie angenehm oder unangenehm diese Situation sein kann. Casting ist immer eine sehr spannende, intensive, aber auch schwierige Erfahrung auf allen Seiten, wie ich finde. Die Konstellation der Gruppe muss stimmen. Oft fallen Entscheidungen nicht nur, weil eine Audition besonders gut oder besonders schlecht gelaufen ist. Stück für Stück kristallisierte sich also unsere Besetzung heraus. Komischerweise haben wir nicht bewusst nach Darstellern gesucht, die den historischen Figuren zum Verwechseln ähnlich sehen. In erster Linie mussten sie glaubhaft ihre Rollen verkörpern können, also mit ihrem Spiel und Gesang überzeugen. Diese verblüffende optische Ähnlichkeit fiel uns erst im November letzten Jahres beim Workshop auf, als sie in verschiedenen Outfits der historischen Vorbilder fotografiert wurden.

blimu: An welchem Punkt sind Sie gerade im Entwicklungsprozess und wie sehen die kommenden Wochen bei Ihnen bis zur Uraufführung aus?

TH: Thomas hat gerade mit Robert Paul, dem musikalischen Leiter und Co-Arrangeur, den Proben-Klavierauszug und ich zusammen mit der Dramaturgin das finale Proben-Skript fertiggestellt. Das muss nun zügig an das Ensemble und das Team gesendet werden, damit sich jeder für den Probenbeginn am 27. Februar entsprechend vorbereiten kann. In den nächsten Tagen und Wochen folgen zahlreiche Vorbesprechungen u. a. mit Melissa King, der Choreographin, Stephan Prattes, dem Ausstatter, Conny Lüders, der Kostümbildnerin, meinen beiden Regieassistentinnen, und vielen anderen Personen, die an dieser Uraufführung beteiligt sind. Es gibt noch sehr viel zu tun!

blimu: Ganz kurz zusammengefasst, Sie empfehlen jedem Leser, sich Ihr Stück  in Fürth anzuschauen, weil:

TH: SPANNEND – EMOTIONAL – RELEVANT

Ein hochkarätiges Kreativteam bringt zusammen mit einem phänomenalen Ensemble einen zutiefst relevanten Stoff als Uraufführung eines neuen, spannenden und hochemotionalen Musicals auf die Bühne des Stadttheaters Fürth − eines der schönsten Theater, das ich kenne. Wer will das verpassen? Ich zitiere an dieser Stelle frech den Slogan, den Barrie Kosky gern für seine Produktionen verwendet: »Get your tickets now!«

blimu: Wir wünschen Ihnen und allen Beteiligten alles Gute für den weiteren Probenprozess und Toi Toi Toi für die Premiere!

Die Fragen stellten Sabine Haydn und Barbara Kern