»Spatz und Engel« am Grenzlandtheater Aachen: Geschichte wahrer Freundschaft zwischen Marlene Dietrich und Édith Piaf

Vorab aus blickpunkt musical 01/2022

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Èdith Piaf (Lasarah Sattler, l.) und Marlene Dietrich (Daniela Ziegler, r.) im Jahr 1960
Foto: Dominik Fröls

In intimer Atmosphäre bringt das Grenzlandtheater Aachen seit Jahren reizvolle Musicalproduktionen auf die Bühne, die mit großer Nähe zu den Zuschauern, welche im Halbrund in 7 ansteigenden Reihen Platz nehmen, hier vor Weihnachten ihre Premiere feiern, um nach weiteren Vorstellungen am Haus im Umland von Aachen gezeigt zu werden. Auch unter den Bedingungen der Pandemie ist dies dem Theater unter kommissarischer Intendanz von Anja Junski gelungen, indem die komplette Bühne verglast und ein vom Fraunhofer-Institut geprüftes Belüftungssystem installiert worden ist (Fraunhofer-Institut bestätigt: »Eine Gefahr von Infektionen durch Aerosolübertragung im Saal, in den Gängen und im Foyer ist nahezu ausgeschlossen.«).
So können die Darsteller/innen aus voller Stimme singen, ohne das nah sitzende Publikum zu gefährden – und auch umgekehrt. Bei der Plexiglaswand muss die Bühne ausschließlich unter Lichthängung über derselben beleuchtet werden, da Licht von außen nur reflektieren und die Zuschauenden blenden würde. Eine Herausforderung für Regisseur Ulrich Wiggers, der »Spatz und Engel« mit Premiere am 6. Dezember 2021 atmosphärisch bewegend inszeniert hat.

Das Theaterstück mit Musik schrieben Daniel Große Boymann (»Odysseus fährt irr«, Dramaturgie und deutsche Fassung von »Die Geschichte meines Lebens«) und Thomas Kahry (österreichischer Autor und Kulturmanager u. a. vom Vindobona Wien) auf Grundlage einer Idee von Theaterwissenschaftler David Winterberg. Uraufführung feierte es am 17. September 2013 am Wiener Burgtheater. Im Oktober 2015 feierte es Schweizer Open-Air-Premiere auf der Walensee Bühne und im November erlebte »Spatz und Engel« seine Deutschlandpremiere im Tanit-Theater/Die Katakombe in Frankfurt am Main.

›Wenn die beste Freundin‹ – Marlene Dietrich (Daniela Ziegler, l.) und Édith Piaf (Lasarah Sattler, r.)
Foto: Dominik Fröls

»Die Geschichte der Freundschaft zwischen Édith Piaf und Marlene Dietrich«, so der aussagekräftige Untertitel, erzählt von der gegenseitigen Faszination der eleganten, selbstbewussten Diva Marlene Dietrich (mit schöner Stimme, Herzensgüte und Eleganz: Daniela Ziegler) aus großbürgerlichem Hause und der körperlich kleinen Édith Piaf (stimmstark und emotionale Göre mit Profil: Lasarah Sattler), mit der einzigartigen Stimme, die sich aus der Pariser Gosse auf die große Bühne kämpfte. Marlene Dietrich ist der Werdegang der Französin bekannt, als diese das erste Mal in New York auftritt und in der Pause auf der Toilette des Playhouse weint, weil der Funke nicht auf das amerikanische Publikum überspringen will. Dietrich nimmt sich ihrer an und gibt ihr Tipps wie, dass sie ihren großen Hit ›La Vie en Rose‹ in englischer Sprache singen solle, um das Eis zum Schmelzen zu bringen. Später schenkt Piaf ihrer Freundin Marlene Dietrich ›La Vie en Rose‹, deren Lieblingslied.

Marlene Dietrich (Daniela Ziegler,l.) spart nicht mit Tipps für Édith Piaf (Lasarah Sattler)
Foto: Dominik Fröls

Zunächst jedoch übernimmt die in Amerika beliebte Schauspielerin und Sängerin ihre Anmoderation und bestimmt für Piaf die richtige Hängung des Lichts im Stellwerk (hier wird in der Inszenierung trotz Glaswand das Publikum als solches einbezogen). Nach gemeinsamer Nacht (›You’re Here and I’m Here‹) in Dietrichs Suite im Hotel Plaza schenkt sie Piaf einen Kreuz-Anhänger mit Smaragden, den diese später ins Grab mitnehmen möchte. In Anlehnung an diese starke Symbolik bestimmt in der Aachener Produktion ein Kreuz das Bühnenbild von Ausstatter Leif-Erik Heine – wird zu Laufsteg und Bühne. Je nach Atmosphäre wechseln die beleuchteten Elemente ihre Farbe. Zwei bewegliche Vorhänge, einzelne Requisiten wie zwei Thonetstühle und ein Lichtdesign mit Spiel von Licht und Schatten (teilweise à la Film Noire) und punktuelle Farbakzente reichen aus, um die verschiedenen Spielorte zu kreieren. Hier wird ein intimer Schlafbereich in der Suite im Grandhotel abgetrennt, da ein Rummelplatz mit Riesenrad und Kettenkarussell heraufbeschworen (eine faszinierende Szene). Zu Beginn des Stücks werden so die beiden Showbühnen geschaffen, auf denen im Jahr 1960 die beiden Künstlerinnen voneinander getrennt auftreten. Sie singen versetzt, zeitweise auch parallel den Titel ›Le Chevalier de Paris‹: Dietrich in der englischen Version ›The World was Young‹ (anfangs sogar deutsch: ›Die Welt war jung‹) und Piaf im französischen Original. Der Gegensatz könnte nicht größer sein: Die glamouröse Marlene Dietrich gibt ihr erstes Konzert in der deutschen Heimat am Casino Baden-Baden, wobei sie nicht von allen willkommen geheißen wird, und Édith Piaf steht 60 km entfernt in Straßburg in der Opera du Rhin auf der Bühne und weigert sich, trotz anhaltendem Applaus, eine Zugabe zu geben. Beide haben schlechte Laune, Marlene bestreitet gegenüber ihrem Bandleader Burt Bacharach (wie alle männlichen Schauspielrollen präsent von Fabio Piana gespielt), Piaf überhaupt zu kennen. Jene reißt eine Autogrammkarte von der Wand und zwingt stattdessen, Freundin und Komponistin Marguerite Monnot (Janina Niehus, die später auch als genervte Nachtschwester und in allen anderen weiblichen Schauspielrollen eine gute Figur macht), ihr die geliebte Tröster-Flasche zu geben. Seit dem Flugzeugabsturz ihrer großen Liebe, Marcel Cerdan (Profiboxer), an welchem sie sich schuldig fühlt, kommt sie vom Alkohol nicht los. Hinzu kommt die Abhängigkeit von Morphium, das ihr nach einem gemeinsamen Autounfall mit Georges Moustaki gegen ihre Schmerzen gegeben worden war. Nach dem Auftritt blicken beide zurück auf das Jahr 1948, als sie sich kennenlernten und Freundinnen wurden.

Èdith Piaf (Lasarah Sattler) und Marcel Cerdan (Fabio Piana) genießen ihre Verliebtheit auf dem Rummelplatz
Foto: Dominik Fröls

Dietrich nimmt Piaf in New York unter ihre Fittiche, die weltgewandte Frau emanzipiert sich nicht nur, indem sie die Mode weiter Hosen prägt, welche bis heute ihren Namen trägt, sie hat auch kein Problem damit, Arm in Arm mit einer Frau aufzutreten (›Wenn die beste Freundin‹) und Piaf vor Journalistinnen und Journalisten und Fotografinnen und Fotografen auf offener Bühne zu küssen. Die Kämpferin Piaf reagiert zögernd auf die Fürsorge der neuen Freundin, die sie verwöhnt, es dabei jedoch in ihren Augen mit dem Um-sie-kümmern etwas übertreibt. Da sie ihr auch vorschreiben will, gesünder zu leben, bei Krankheit nicht aufzutreten und nicht jedem Mann gleich ihr Herz zu schenken, kommt es immer wieder zu Reibereien. Piaf »kann« ihr Publikum nicht enttäuschen und genießt ihr Leben sowie ihre Liebesbeziehungen exzessiv, um sich anschließend bei Dietrich auszuweinen. In Marcel Cerdan findet sie die große Liebe und verliert sie wieder. Als sie 1952 den französischen Sänger Jacques Pills heiratet, sorgt Dietrich für das Hochzeitskleid und ist Trauzeugin, doch die Ehe hält nicht. Wie Édith Piaf es so schön sagt: »Wahre Freundschaft hält fester als jeder Ehevertrag«.

Piaf fasziniert Stil und Souveränität des Hollywood-Stars. Dietrich, die sich schon schwer damit tut, ihr Gerührtsein zuzugeben, bewundert Piafs unverfälschte Emotionalität. Sie selbst sieht sich als Projektionsfläche der Fantasien der Leute, die sie glamourös sehen wollen. Die emotionalen, gesanglich starken Vorträgen der Französin, die sich auf der Bühne verströmt, führen ihr vor Augen, dass sie, die preußisch erzogene Berlinerin, das nicht vermag. Als Piaf ihr das in einem Streit jedoch an den Kopf wirft, kommt es zum Bruch zwischen beiden. Hier darf auch Ziegler stärkere Emotionen zeigen. Ende des zweiten Akts (in Aachen wurde das Stück in zwei Akten gespielt) endet der Rückblick. Wiederum ist es Dietrich, die 1960 nach dem Konzert in Baden-Baden den ersten Schritt zur Versöhnung geht. Sie kümmert sich um ihre Freundin, nachdem diese auf der Bühne zusammengebrochen ist und steht ihr bei, als sie an Krebs stirbt. 1975 verlässt Dietrich nach Sturz in den Orchestergraben mit einer Verletzung am Bein die Bühne. Sie zieht sich zurück in ihre Wohnung nach Paris mit Büchern, Drogen und Alkohol. Dort lebte sie 13 Jahre bis zu ihrem Tod wie eine Einsiedlerin.

Neben den beiden hervorragenden Darstellerinnen wird die Geschichte getragen von den Liedern, die beide Künstlerinnen prägten, allen voran die großen Piaf-Arien ›Padam, padam‹, ‚›Mon dieu‹, ›Hymne à l’amour‹, ›Milord‹ und ›Non, je ne regrette rien‹, in welchen Édith Piaf die Tragödien ihres Lebens und Liebeslebens verarbeitete. Abgesehen von dem Antikriegslied ›Sag mir, wo die Blumen sind‹ (im Original: ›Where Have All the Flowers Gone‹), stehen für Marlene Dietrich vor allem Film-Songs wie ›Awake in a Dream‹ (»Desire« 1960), ›By Land, Sea and Air‹ (1952), ›Leben ohne Liebe kannst du nicht‹ (»Nie wieder Liebe« 1931), ›Just a Gigolo‹ (gleichnamiger Film) sowie ›Frag‘ nicht, warum ich gehe‹, Letzterer in einer besonders schönen Interpretation von Daniela Ziegler. Die musikalische Umsetzung übernehmen im Bühnenhintergrund im eigenen Glaskasten Pianist und musikalischer Leiter Gero Körner und die Akkordeonistin Julia Samhaber, die auch solistisch mit ›L’Accordeoniste‹ glänzt.

Feines, atmosphärisch dichtes Musical am Grenzland Theater Aachen.

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