Man sieht das Stück mit anderen Augen – Carsten Lepper im Interview zu seiner Rolle als Tony in »West Side Story« in Magedburg

Carsten Lepper spielt seit dem 10. April 2010 in der Magdeburger Inszenierung von Andreas Gergen und Christian Struppeck die Rolle des ‚Tony. Im Anschluss an die Premiere sprachen wir mit dem Darsteller über die Botschaft der ‚West Side Story‘ für uns heute und die intensive gemeinsame Arbeit an der Entstehung des Stückes.

Carsten Lepper  Foto: Nilz Böhme

Carsten Lepper
Foto: Nilz Böhme

MC24: Die ‚West Side Story‘ gilt als Meilenstein in der Musical-Geschichte. Was hat uns dieser Klassiker heute zu sagen?

CL: Wir versuchen, in dieser Inszenierung zu vermitteln, dass Gewalt in unseren hiesigen Gefilden an der Tagesordnung ist. Wenn man sieht, dass ein Mann in München Jugendliche schützen will und andere ihn brutal zusammenschlagen, wird die Situation nicht besser, sondern immer schlimmer. Ich habe den Eindruck Gewalt, wie wir sie zeigen, ist aktueller denn je. Deshalb ist die ‚West Side Story‘ so aktuell und zugleich auch ein Klassiker geworden. Ganz abgesehen von der schönen Musik. Wenn wir auf die Jahrzehnte zurückschauen — wir hatten die 1968er, die 1970er, die 1980er Jahre, dann den Fall der Mauer — was da alles passiert ist an Gewalt, an Ausdruck von rücksichtslosem Freiheitswillen, und es scheint nicht aufzuhören.

MC24: Dabei hat doch die Freiheit des Einzelnen Grenzen in der Freiheit des anderen.

CL: Natürlich, ohne Grenzen gibt es keine Freiheit. Ansonsten bedeutet Freiheit ja gewissermaßen „vogelfrei“ — frei zum Abschuss. Was ist daran frei? Für mich hat die ‚West Side Story‘ die Aufgabe, Menschlichkeit zu vermitteln. Deshalb stellt sie dar, wie man mit Menschen nicht umgehen sollte. Daneben zeigt sie Arbeitslosigkeit, die Jugend, die auf der Straße rumhängt, weil sie keine Arbeit hat und keine bekommen kann, weil einfach keine Arbeit da ist. Dann schließen sich die Jugendlichen irgendwelchen rechten Gesinnungen an. Im Endeffekt sind die Jets und die Sharks nichts anderes, die einander die Köpfe einhauen. Beide sind absolut extreme Gruppierungen. In diesem Jugendgang-Bild — jetzt auf heute bezogen — haben wir die ganzen Aufmärsche von linken oder rechten Autonomen.

'Maria' Carsten Lepper als 'Tony'  Foto: Nilz Böhme

‚Maria‘ Carsten Lepper als ‚Tony‘
Foto: Nilz Böhme

MC24: Sie haben ganz früh in Ihrer Karriere schon einmal die ‚West Side Story‘ gespielt. War es für Sie eine Wiederbegegnung?

CL: Nein, eine Wiederbegegnung würde ich es nicht nennen. Das war 1997 auf einer Freilichtbühne in Coesfeld in einer Amateurproduktion. Damals bin ich kurzfristig eingesprungen, weil der ‚Tony‘, Jan Ammann, ausgefallen ist. Ich musste die Rolle innherhalb von drei Wochen einstudieren oder besser — man hat mich einstudiert (lacht). Das kann man nicht vergleichen. Man wird da hineingeworfen und Hauptsache, man kann seinen Text. Von einem Erarbeiten der Rolle — wie jetzt mit Andreas Gergen und Christian Struppeck — kann nicht die Rede sein. Das Stück war übrigens damals auch in Deutsch, aber in der alten Übersetzung von Marcel Prawy, die mit der heutigen Fassung von Nico Rabenald und Frank Thannhäuser nichts mehr zu tun hat. Das Wort „Heut Nacht“ ist mit das einzige, was in der neuen Übersetzung, die ich sehr gelungen finde, noch gleich ist.

MC24: Wie würden Sie den ‚Tony‘ in dieser Inszenierung charakterisieren?

CL: Habe ich heute Abend so schlecht gespielt? (lacht). Eines finde ich ganz wichtig: Er ist ein ehemaliger Jet. Im Grunde ist er immer noch einer von denen, sonst würde er sich dem Faustkampf mit Bernardo nicht stellen. Spätestens da merkt man es. Sicher, er denkt: Okay, wir machen einen Faustkampf, dann bekomme ich vielleicht ein blaues Auge und er auch, aber das war’s. Am Ende wissen wir dann, wer der Stärkere ist. Tony ist immer noch ein Jet, aber eigentlich will er es nicht mehr sein. Ich denke, von allen ist Tony der Erwachsenste, der Reifste. Er ist ein Teenager, der sagt: „Ich will mit den Jungs nicht mehr auf der Straße abhängen, sondern eine Lehre machen, mir für die Zukunft etwas aufbauen.“ Er hat einfach das Gefühl, dass irgendetwas Tolles auf ihn wartet — irgendwas vor der Tür steht und er sie nur öffnen muss. Als er von diesem Irgendwas in dem Song Something’s Coming singt, kann das etwas Berufliches, aber auch etwas ganz anderes meinen. Das muss nichts mit Liebe zu tun haben.

MC24: Was beutet diese Szene „Begegnung“ für ihn, als sich Tony und Maria erstmals gegenüberstehen?

CL: Das Ganze ist schon sehr gerafft und geht sehr schnell vorüber. Ich weiß gar nicht, ob das im Original, ganz früher, auch schon eine so kurze Momentaufnahme war. Wir haben hier noch einmal recherchiert, aber nichts herausgefunden. Man darf natürlich eins nicht vergessen. Wenn Du eine Liebesgeschichte so ewig entwickelst, zehrt das auch an den Nerven der Zuschauer. Der erste Akt geht eine Stunde, 25 Minuten, das ist ganz schön lang. Doch zurück zur Szene mit Tony und Maria. Es ist ihre erste Begegnung und von beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick. Sie denken, sie seien füreinander geschaffen. Nur so erklärt sich, dass Tony sofort losrennt und „Maria!“ durch die Gassen ruft. Er ist ganz gebannt und sieht nur noch diese Frau. Das ist ziemlich unvorsichtig in dieser Situation zwischen den Gangs.

MC24: Welche Bedeutung hat für Sie Musik im Musical, insbesondere in der ‚West Side Story‘?

CL: Zunächst wäre Musical ohne Musik kein Musical, sondern ein „Play“. Für mich überträgt sie große Emotionen. Sie ermöglicht dem Sänger, dem Darsteller, sich ganz einzulassen auf diese Gefühle, die dir die Musik schon als Vorlage gibt. Das ergänzt sich dann mit deinen persönlichen Emotionen und hoffentlich kommt von dieser Mischung dann etwas beim Zuschauer an. So gesehen hilft Musik dem Darsteller, Emotionen herzustellen.

Für mich gibt es bis heute kein besseres Stück als die ‚West Side Story‘ — vor allem musikalisch. Es gibt gute Musicals, keine Frage. Ich hatte die Freude, in einigen zu spielen, aber die ‚West Side Story‘ besitzt für mich alles, was ein Musical braucht: Emotionen, mitreißende Tanzszenen, eine enorme Energie und wahnsinnig tolle Musik. Sie beinhaltet Tanz, Gesang, Schauspiel und zwar in einer absoluten Gleichberechtigung der drei Bereiche. Ich sage gerne: „In der West Side Story gibt es keine Hauptrollen.“ Klar, Tony singt Maria und Maria singt I Feel Pretty, diese Soli gibt es natürlich, aber dafür singt Riff mit den Jungs Cool und den Jet-Song. Für mich ist das ein großes Ensemble-Stück und wir wenigen Gäste haben genau das versucht, mit den Darstellern vom Haus eins zu werden — ein Ensemble zu bilden.

Ausschnitt aus dem Prolog in Magdeburg  Foto: Nilz Böhme

Ausschnitt aus dem Prolog in Magdeburg
Foto: Nilz Böhme

MC24: Man spürt, dass es funktioniert.

CL: Das ist schön. Abgesehen von den Privatismen — dass man sich super versteht und so — gefällt mir persönlich an dem Ensemble hier so wahnsinnig gut, dass das alles Typen sind. Jeder hat für mich einen Charakter, auch privat. Jeder steht für irgendwas. Und das nehmen die Leute natürlich mit auf die Bühne. So sind es nicht einfach nur die Jets und die Sharks, sondern Jets und Sharks, die aus vielen verschiedenen Persönlichkeiten bestehen.

MC24: Sie sagten gerade, dass für Sie im Magdeburger Ensemble Typen auf der Bühne stehen. Musical spielt am Stadt- und Landestheater eine immer wichtigere Rolle. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

CL: Ich finde die Entwicklung zum Teil sehr positiv, wie ich sie hier erlebe, zum Teil aber auch sehr rückläufig. Es gibt Theater — wie z.B. Magdeburg, Bielefeld, St. Gallen — , die sich trauen. Wir machen jetzt mal ‚Titanic‘ auf dem Domplatz. Das finde ich unglaublich, kaum ein Theater hätte sich das getraut. Viele Häuser setzen eher auf Altbewährtes und sagen: „Okay, wir machen unsere ‚My Fair Lady'“. Sicher, hier wird auch ‚My Fair Lady‘ gemacht und das hat auch seine Berechtigung, aber an anderen Häusern wird eben nur ‚My Fair Lady‘, ‚Kiss Me Kate‘ oder ‚Jesus Christ Superstar ‚gespielt. Man sieht und liest immer die gleichen Namen. Ich glaube, dass der Zuschauer auch irgendwann müde wird und neue Sachen sehen will. Da finde ich es toll, dass es vereinzelt Theater gibt, die sich dem annehmen, neue Sachen machen oder Dinge anders machen. Diese ‚West Side Story‘ ist ja auch nicht wie andere Produktionen. Es gibt einen Prolog und einen Epilog. Ich glaube, dass niemand erwartet, dass Tony am Ende aufsteht und sich einreiht. Und genau das wollen wir: Wir möchten eine Show in der Show zeigen, die deutlich macht, dass jemand an dieser U-Bahnstation umgekommen ist. Ich finde das eine super Idee, einfach schon, weil es überraschend ist, so wie auch andere Dinge in dieser Inszenierung. Heute habe ich erlebt, wie die Leute bei der Balkonszene gelacht haben: Maria ist unten und Tony ist oben. All solche Brüche, das sind Ideen, mit denen man aus den alten Stücken so tolle Sachen machen kann, wenn man einmal nicht eins zu eins inszeniert. Durch solche neuartigen Einfälle sieht man das Stück dann mit anderen Augen. Wenn ich mir Szenen angeschaut habe, in der Probe, wenn die Kollegen auf der Bühne waren, habe ich auch gedacht: Ah, okay…. Wie Sie sagen, man hat so ein „Aha-Erlebnis“. Ah, so meint das der Regisseur — in diesem Fall die Regisseure. Du siehst dann auch das Konzept, beispielsweise dass die Sharks und die Jets die ganze Zeit an der Seite stehen und zuschauen.

Schlussapplaus bei der Premiere  Foto: Nilz Böhme

Schlussapplaus bei der Premiere
Foto: Nilz Böhme

MC24: Es war sehr interessant, ihre Blicke zu beobachten. Die Jets haben dann hauptsächlich zu Tony geschaut und die Sharks zu Maria.

CL: Ja, das ist ganz bewusst so gesetzt. Toll, dass es funktioniert. Oder auch, bei ‚Tonight‘ sind sie alle dabei. Man soll sehen: Wir sind ein Ensemble und wir spielen und lassen durch unser Spiel dieses Stück erst entstehen. Das geht natürlich nicht in allen Szenen, weil der Platz zum Tanzen usw. gebraucht wird, aber für mich ist das eine zentrale Aussage der Inszenierung.

 

MC24: Sie haben sich sehr ausführlich zur Schließung des Colosseum Theaters in Essen geäußert und den Vorschlag gemacht, es in ein Repertoire-Theater für Musical umzuwandeln. Etwas in der Art gibt es ja in Budapest mit dem Operetten- und Musicaltheater (Operettszínház). Könnten Sie sich vorstellen, ein solches Haus selbst zu leiten und die Stücke dafür auszusuchen?

CL: Natürlich könnte ich mir das vorstellen, wobei das keine leichte Aufgabe wäre bei einem so großen Theater. Das Problem ist, es fehlt einfach der Geldgeber. Ich bin nicht mehr ganz im Bilde, was da gerade so abläuft. Das letzte, das ich gehört habe, ist, dass die Mitarbeiter einen offenen Brief geschrieben haben. Mich hat es sehr getroffen, als ich von der Schließung erfahren habe. 2001 habe ich das Stück ‚Elisabeth‘ mit den ersten Worten des Lucheni eröffnet und so das Theater aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Fällt es jetzt wieder in einen solchen und wird es jemals wieder daraus erwachen? Vielleicht wird es jetzt nur noch eine Veranstaltungshalle für Tournee-Produktionen sein. Das Foyer dieses wunderschönen Theaters wurde ja schon zu ‚Elisabeth‘-Zeiten an Firmen vermietet. Ich finde es auch vollkommen in Ordnung, wenn man diesen tollen Rahmen nutzt, um Geld für das Theater zu verdienen. Doch jetzt ist alles unsicher. Trotzdem muss man das Ganze auch immer von zwei Seiten betrachten. Die Stage Entertainment ist ein Privatunternehmen. Sie bekommt keine Subventionen, muss also Geld verdienen. Wenn keines reinkommt, was macht man dann…ich frage mich nur, ob es gerade dieses Theater sein muss, das geschlossen wird. Ich denke doch, dass die Manager sich schon sehr genau überlegt haben, welches Haus mehr Publikum zieht. Mir tun einfach die Mitarbeiter leid. Sie haben dieses Theater ins Herz geschlossen, ich habe mit einigen gesprochen, die sogar geweint haben am Telefon. Sie können es noch gar nicht glauben und wollen alles versuchen, einen Sponsor zu finden. Nur welcher Sponsor steckt Geld in ein Fass ohne Boden. Die Stage Entertainment hat viel Geld reingebuttert, um dem Haus wieder auf die Beine zu helfen. ‚Elisabeth‘ war jedoch die einzige Show, die schwarze Zahlen geschrieben hat. In Deutschland ist das alles viel extremer als am Broadway. Wenn eine Show dort nicht läuft und nur 500 Dollar in der Kasse sind, wird sie nach vier Wochen abgesetzt. Das ist natürlich bei einem Theater, das 300 bis 400 Angestellte hat, wo Verträge weiterlaufen, eine ganz andere Geschichte. Für die Mitarbeiter und auch für die Kultur in Essen ist die Schließung schlimm — und das im Kulturjahr 2010. (atmet tief ein). Da kriegt das Ganze einen besonderen Beigeschmack.

MC24: Zum Abschluss noch eine Frage zu Ihren anderen Projekten. Sie haben sich mit Kameraworkshops und Kurzfilmen in das Thema Spielen vor der Kamera eingearbeitet. Sieht man Sie demnächst mal im Kino oder Fernsehen?

"2001 habe ich das Stück 'Elisabeth' mit den ersten Worten des Lucheni eröffnet und so das Theater aus seinem Dornröschenschlaf erweckt." Foto: Nilz Böhme

„2001 habe ich das Stück ‚Elisabeth‘ mit den ersten Worten des Lucheni eröffnet und so das Theater aus seinem Dornröschenschlaf erweckt.“
Foto: Nilz Böhme

CL: Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Fernsehen ist so ganz anders als Theater. Theater ist planbar. Da nimmt man an einem Vorsingen teil oder man wird engagiert, weil der Regisseur einen gerne haben möchte. Das ist meist auf ein halbes Jahr oder drei bis vier Monate im Voraus planbar. Beim Fernsehen läuft es so: Du musst am besten gestern können (lacht). Das ist einfach so. Du wirst angerufen: Können Sie in 3 oder 4 Tagen die oder die Rolle übernehmen? Zu 90% sagst Du dann: Kann nicht, weil ich gerade Theater spiele. Dann versuchst du es irgendwie zu drehen, aber meistens geht es eben nicht. Schau’n wir mal, wie es so weitergeht.

Vielen Dank, dass Sie trotz der Premiere und der morgigen Nachmittags-Show Zeit hatten, uns einige spannende Einblicke in Ihr Verständnis vom Stück und der Magdeburger Inszenierung der ‚West Side Story‘ zu geben.

Das Interview führte Barbara Kern.