»Auf eine solche Mammutaufgabe kann man sich nicht vorbereiten«

Stage-Entertainment-Sprecher Stephan Jaekel im Interview zu den Schließungen der Theater durch die Corona-Pandemie

Vorab aus blickpunkt musical 03/2020

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Stephan Jaekel (Unternehmenssprecher der Stage Entertainment)<br>Foto: Stage Entertainment

Stephan Jaekel (Unternehmenssprecher Stage Entertainment)
Foto: Stage Entertainment

blickpunkt musical: In ganz Europa sind aktuell alle Theater geschlossen, auch die der Stage Entertainment, war es für Sie vorstellbar, dass so etwas einmal eintreten könnte?

Stephan Jaekel: Ganz ehrlich: Nein! Eine solche Situation hat wohl niemand in der Theaterwelt jemals für möglich gehalten. Und es betrifft ja nicht nur Europa – auch der komplette Broadway ist »dark«, wo wir gerade so erfolgreich mit »Tina« gestartet waren. Es ist surreal – und es trifft alle, vom kleinen Privattheater bis zu den großen Opernhäusern der Welt.

blimu: Kann man sich als Unternehmen auf diese Situation, besonders in solchem Ausmaß, überhaupt vorbereiten?

SJ: Ein weiteres: Nein, nicht wirklich. Wir mussten uns innerhalb weniger Tage zunächst mit einer behördlich angeordneten Beschränkung auf maximal 1.000 Besucher pro Aufführung und dann mit der Komplett-Schließung der Theater auseinandersetzen. Wir haben dafür schnell die wichtigsten Themen definiert. Die ersten Überlegungen galten den Kolleginnen und Kollegen: Wie bleiben möglichst alle gesund – und wie können wir es absichern, wenn es von heute auf morgen für den Großteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keine Aufgaben gibt? Dann mussten wir uns um die Handhabe und gute Kommunikation mit all unseren Besuchern kümmern, die von den Showausfällen betroffen sind. Dazu galt es, unseren Spielplan so anzupassen, dass möglichst alle zuvor angebotenen Stücke auch nach einer Wiederaufnahme wieder angeboten werden. Eine sehr komplexe Aufgabe, die wir ja zudem mit all unseren Theatern weltweit koordinieren mussten. Auf eine solche Mammutaufgabe kann man sich nicht vorbereiten – aber in Teamwork haben wir es bislang gut gemeistert.

blimu: Vorstellungen finden keine mehr statt, gibt es aber anderen Betrieb in den Häusern?

SJ: Die aktuelle Rechtslage mit ihren Abstandsregeln legt den Theaterbetrieb auch backstage weitgehend lahm. An Proben im herkömmlichen Sinn ist beispielsweise nicht zu denken. Einige unaufschiebbare Wartungsarbeiten werden vorgenommen. Ansonsten finden erforderliche Meetings digital statt: So haben sich zum Beispiel der Cast, das Kreativteam und die Team-Mitarbeiter von »Ich war noch niemals in New York« nicht im Stage Theater des Westens in Berlin, sondern erst einmal alle von zuhause aus auf einem Split Screen am PC »getroffen«, und auch die Designs für unser neues Bühnenbild von »Wicked« wurden per Zoom-Meeting präsentiert.

blimu: Die Künstler können aktuell – ohne Vorstellungen – ihrer Arbeit nicht nachgehen. Wie sieht das mit anderen Mitarbeitern in den Theatern und auch in der Unternehmenszentrale aus?

SJ: Die überwiegende Zahl unserer Mitarbeiter sowohl in den Theatern als auch in der Unternehmenszentrale befinden sich – wie die Künstler – in Kurzarbeit, teils zu 100%, teils anteilig. Je nach konkretem Arbeitsanfall werden wir aber auch sukzessive Kolleginnen und Kollegen wieder voll beschäftigen. Das Home Office bewährt sich gerade dank der mittlerweile guten digitalen Möglichkeiten als effektiv, und wir sind zudem in der Lage, das staatliche Kurzarbeitergeld aufzustocken, was die wirtschaftliche Situation der Kolleginnen und Kollegen in Kurzarbeit zumindest etwas abfedert.

blimu: Es ist offensichtlich, dass der wirtschaftliche Schaden für Stage Entertainment enorm ist. Welche der von der Politik angebotenen Maßnahmen helfen der Firma und den Mitarbeitern? Und was sollte seitens der Politik getan werden, um Unternehmen wie Stage Entertainment und ihren Mitarbeitern zu helfen?

SJ: Die mit Abstand wichtigste Hilfe für uns ist das staatliche Kurzarbeitergeld. Auf diese Weise können wir Entlassungen vermeiden. Staatliche Direktzuschüsse können wir unter den aktuellen Hilfspaketen keine bekommen. Für uns hilfreich wäre die Einführung der Gutscheinlösung für die Tickets der wegen Corona ausfallenden Shows – die entsprechende Gesetzesänderung befindet sich kurz vor Verabschiedung.

Szenenfoto aus Disneys »Aladdin«
Foto: (c) Deen van Meer

Natürlich würden wir es darüber hinaus sehr begrüßen, dass alle privaten Kulturunternehmen Unterstützung bekämen. Je länger der Kulturbetrieb lahmgelegt bleibt, umso größer wird die Gefahr von Insolvenzen – von den Schwierigkeiten freischaffender Künstler einmal ganz abgesehen. Wir alle miteinander tragen enorm zur kulturellen Vielfalt dieses Landes bei. Und es wird mehr und mehr spürbar, dass das Live-Erlebnis eines Theaterabends, vom Kabarett bis zur großen Oper, doch mehr ist als ein Zusatz-Vergnügen. Es bedient ein menschliches Grundbedürfnis und ist damit relevanter, als manche politische Äußerung es derzeit formuliert. Wie bei den staatlichen Kulturbetrieben auch sollte die Politik also darauf achten, diese Vielfalt nicht sterben zu lassen.

blimu: Eine aktuelle Untersuchung aus den USA zeigt, dass nur 30% der Theaterzuschauer direkt wieder eine Vorstellung besuchen möchten, wenn dies möglich ist. Erwarten Sie hier ähnliches und welche Folgen könnte dies für unsere Theaterlandschaft, auch jenseits der Stage Entertainment, haben?

SJ: Einen »Corona-Einfluss« wird es sicher geben. Es wird spannend sein, zu beobachten, ob sich die in den USA erhobenen Zahlen später mit der Lebenswirklichkeit decken. Ich finde es jedenfalls sehr schwer, aktuell abzufragen, in welcher konkreten Stimmungslage sich die Menschen zu dem Zeitpunkt befinden werden, wenn sich die Vorhänge wieder heben dürfen. Gewiss wird es einen Teil geben, der angesichts vieler Menschen unter einem Dach zunächst skeptisch bleibt. Aber genauso sicher wird es auch Menschen geben, die sich am Ende dieser langen Durststrecke nach einem Live-Musical-Abend geradezu sehnen. Eine uns vorliegende Zwischenerkenntnis ist jedenfalls, dass die Mehrheit der Kulturinteressierten das aktuelle, neue, digitale künstlerische Angebot zwar schätzt, es jedoch definitiv schwächer als jedes Live-Erlebnis empfindet.

blimu: Wenn eine Produktion wie jetzt für eine lange Zeit nicht spielt, ist es sicherlich mit ganz neuen Herausforderungen verbunden, diese wieder zu starten. Können Sie beschreiben, wie diese aussehen könnten?

SJ: Diejenigen Shows, die »einfach anknüpfen«, werden es am leichtesten haben. Natürlich wird es ein paar Tage dauern , ehe alle Gewerke und Systeme wieder so reibungslos ineinandergreifen wie zuvor – doch dafür sind alle Kolleginnen und Kollegen in Cast, Crew und Orchester Vollprofis. Außerdem halten wir in der jetzigen Zeit Angebote zum menschlichen und fachlichen Austausch aufrecht, so dass niemand »einrosten« muss. Ungewohnter ist die Situation in den Theatern, bei denen Premieren anstehen. Obwohl wir noch nicht genau wissen, wann etwa Proben im herkömmlichen Sinne wieder stattfinden können, versuchen wir, bis dahin die Zeit bestmöglich und effizient zu nutzen – von Video-Calls bis Einzel-Coachings, dem Bau einzelner Bühnenbilder oder ersten Kostüm-Zeichnungen. Und auch die Kolleginnen und Kollegen der Vermarktung und des Vertriebs haben zu tun: mit der Tickethandhabe und mit den Planungen zur Wiedereröffnung. Dass dabei die Arbeitsbedingungen ganz anders sind als zuvor, versuchen wir, soweit es geht, positiv zu sehen, und sind dankbar für die digitalen Möglichkeiten unserer Zeit.

blimu: Wie wirken sich die aktuellen Schließungen auf den Spielplan aus?

Szenenfoto aus »Tina – Das Tina Turner Musical«<br>Foto: Manuel Harlan

Szenenfoto aus »Tina – Das Tina Turner Musical«
Foto: Manuel Harlan

SJ: Unser angepasster Spielplan geht von einer Wiederaufnahme am 1. September aus und soll vor allem sicherstellen, dass möglichst viele der Shows, die wir bis zum Freitag, den 13. März – ein symbolisches Datum für den Lockdown – im Angebot hatten, auch im Anschluss wieder gezeigt werden können. Bis auf »Ghost« in Stuttgart ist uns dies auch gelungen, vor allem durch Laufzeit-Verlängerungen bei manchen Stücken. Die größten Veränderungen sind die Verlängerung von »Tina« in Hamburg, der sich daraus ergebende Wechsel von »Mamma Mia!« in die Hamburger Neue Flora, sodass dort »Wicked« erst 2021 Premiere hat. Und in Stuttgart startet »Tanz der Vampire« später, als ursprünglich geplant, wodurch die »Tina«-Premiere in den Herbst 2021 rückt. Unverändert weiter spielen »Der König der Löwen«, »Blue Man Group«, »Paramour« und »Pretty Woman«. »Aladdin« in Stuttgart zeigen wir sogar bis Ende Januar 2022.

blimu: Was passiert mit den bereits verkauften Tickets?

SJ: Wir bieten unseren Besuchern den Umtausch gegen einen neuen Wunschtermin an – sogar mit Auswahl aus dem kompletten Stage-Entertainment-Stücke-Angebot. In Härtefällen erstatten wir den Kaufpreis, aber wir stellen jetzt schon fest, dass die überwiegende Zahl unserer Gäste froh ist, ihre Wunschshow zu einem anderen Zeitpunkt doch noch sehen zu können. Um dazu besonders viele Termine anbieten zu können, öffnen wir die Vorverkäufe bis weit ins Jahr 2021.

blimu: Ihre Kollegen in den Niederlanden haben ausgewählte Shows im Internet veröffentlicht, ist ähnliches auch für Deutschland geplant?

SJ: Wir haben uns für eine andere Idee entschieden und zeigen demnächst Highlights aus 20 Jahren Stage Entertainment Deutschland – von großen Gala-Premieren über die schönsten Show-Trailer bis zu Making-ofs, TV-Auftritten oder Videos mit bekannten Kreativen. Über 50 verschiedene Shows haben wir seit Gründung der Firma im April 2000 bereits produziert – da können wir aus einem reichen Fundus toller Erinnerungen schöpfen.

blimu: Vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Michel Honold

Vorab aus blickpunkt musical 03/2020

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