Uraufführung von »Kasimir und Karoline« an der Staatsoper Hannover

»Kasimir und Karoline« Hannover 2023
Foto: Tim Müller

Maßgeschneidert wird aus Ödön von Horváths Schauspiel von 1932 in dem Auftragswerk der Staatsoper Hannover ein Spiegel unserer Zeit – die Koordinaten sind ähnlich: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, hält da die Liebe stand?

Drew Sarich stellt als Junanita schillernd provozierend diese Frage, und führt als »Hüterin der Nacht« durch das Stück. Horvárths »Die Liebe hört nimmer auf« steht als Fragezeichen im Raum. Als »Dunkler Engel der Liebe« präsentiert Juanita, die mal Johannes war, Karoline und Kasimir, Erna und Merkl Franz und orakelt: »Nur im Dunkeln kann die Liebe funkeln.«
Statt Hau-den-Lukas im Vergnügen des Oktoberfestes – Disco und Vergessen im Rausch einer Partynacht. Es gilt nur Liebe, Lust, Gewinn – die allgemeine Krise und das Private passen nicht zusammen. Der ›Zeppelin‹ fliegt draußen vorbei – er wird zur Metapher für das Schweben in eine bessere Zukunft und zum großen Opening mit Chor und Solisten: »Wir schweben wie ein Zeppelin.«

Doch wir wissen, dem Luftschiff ist, wie die Geschichte es zeigte, der Absturz bestimmt, und ist nur ein Luftschloss, wie Kasimir es sieht; denn »wir haben nur dies Leben« und für Karoline (Sophia Euskirchen) und Kasimir (Dejan Bućin) ist es halt ›Zu schwer füreinander‹.
Horváth beobachtet die Menschen von damals mit kritischem Blick, das Stück zeigt Menschen von heute – da wird ›Menschen ohne Gefühle haben´s leichter‹ fast zum Party-Hit. »Ich bin nicht die, die ich dachte« denkt Karoline und strebt nach Höherem, den sozialen Aufstieg. Kasimir ist arbeitslos – es droht die Abschiebung – er ist raus! Da gibt es keine Zukunft.
Sie reden aneinander vorbei. Juanita versucht es zu kitten. Doch: »Die reine Liebe würde halten, wenn die Welt nicht wär.« Beide zerbrechen daran.
Karoline bleibt nach einem Ausflug mit den geilen gut betuchten ›Alte(n) „Hirschen› Rauch (Frank Schneiders) und Speer (Daniel Eggert) beim schüchternen Eugen Schürzinger (Philipp Kapeller), der lernt, wie man durch das System zum Erpresser wird.
Kasimir aufgemischt vom asozialen brutalen Macho Merkl Franz (Yannick Spanier) weiß, er ist morgen schon vergessen, fühlt sich als Freak der Nacht (›Freakshow‹). Die Liebe währet immer? Es ist das Ende einer Liebe.
Er entdeckt, dass er und Erna (Ketevan Chuntishvili) einiges gemeinsam haben. Erna fühlt sich angesichts der ›Sterne‹ des Universums unendlich hilflos klein: »Was ist der Mensch neben all den Sternen – schau hinauf! Wir fliegen zum großen Bär!«, und träumt nachts oft von einer Revolution – die Bühne füllt sich und der Chor fällt ein.

Der Komponist Jherek Bischoff reist bei diesem »Theater total« in musikalischer Vielfalt durch die Facetten der Nacht, mit Walzer, Couplets, Nachtclub-Beats, Ton Einspielungen, elektronischen Klängen, Ticken von Uhren und Zuspielungen, mit großer Orchesterbesetzung und Chorsätzen, filmischen Underscores zu dramatischen, durchchoreographierten Szenen auch mal a cappella im Wechsel von Musical- und Opern-Songs, die in Chöre übergehen, von Maxim Böckelmann am Pult leidenschaftlich dirigiert
Martin G. Berger und Martin Mutschler nutzen in den Dialogen teilweise Orginal HorváthTexte und erfinden in den Liedern Momente der Emotion und des Verweilens und der Befindlichkeit der Menschen auf dem Trip ihrer Suche nach dem Sinn des Seins. Zum genauen Verständnis und Genuss der Texte und gekonnten Reime tragen die Übertitel bei.

In der Synthese verschiedener Genres stellt dies Auftragswerk der Staatsoper Hannover Weichen. Es wurde nicht, wie so oft bei neuen Musicals, eine Nacherzählung oder Vertonung einer vorgegebenen Story, sondern ein poetisch expressiv neues eigenständiges theatrales Abenteuer modernen Musiktheaters.
Martin G. Berger fasziniert als congenialer Regisseur des eigenen Stücks, inszeniert mit szenischer Phantasie und fokussiert die Party unseres Lebens, indem er zeigt, was Musical alles sein kann.

Auf derleeren Bühne platziert, dreht sich ein Kubus voller Glühbirnen (Bühnenbild: Sarah-Katharina Karl), sichtbar wird die Außenfront eines Nachtclubs mit Fenstereinblick auf das hektische Treiben im Innern im Rausch von Alkohol Musik und Licht und mit Live-Videos. Später öffnet sich die Fassade und offenbart sich als Club von Juanita mit Showtreppe und weißem Schaukelpferd als Karussel-Relikt und dem sich drehenden Hippodrom und assoziativen Schauplätzen, Kostümen und Outfits der nächtlichen Szene.
In einer gelungenen Mischung beweist die Kraft von Dreisparten-Häusern wie ein Chor, zwei Musicaldarsteller, ein Schauspieler und Sänger der Oper ein Musical auf die Beine bringen können.

Drew Sarich ist der schillernder Star der Reise durch die Nacht. Aus der Affendame Juanita, der Raritätenshow auf dem Oktoberfest im Orginal, wird der queere Host im Dschungel der Freaks des vergnügungssüchtigen Partyvolks in ständigem Wechsel von exotischen Kostümen (brilliant: Esther Bialas) und Haltungen, mal augenzwinkernd im Dialog mit dem Publikum, mal ernst analysierend und nachdenklich oder als brillianter Show-Star im eigenen Club. Nicht umsonst ein Star der Musicalszene.
Sophia Euskirchen ist eine Musicaldarstellerin der Extraklasse, die in Dialog und Gesang keine Wünsche offen lässt, ist als Karoline zerbrechlich, kraftvoll, mal mit Mut, mal melancholisch, mal strahlend. Der Schauspieler Dejan Bućin trifft in seinem verzweifelt schnoddrigen Alltagsjargon und seiner Spielweise das »lockere« Verdrängen der existienziellen Probleme von Kasimir.
Als schüchterner »tumber« Eugen Schürzinger überrascht der Tenor Philipp Kapeller mit gutem Dialog und anrührendem Spiel und Humor. Yannick Spanier ist als Macho und Kleinkrimineller Merkl Franz körperlich und sprachlich voll in der Rolle, und seine Freundin Erna (Ketavan Chuntishvili) berührt in ihrer naiven Lebensphilosophie. Frank Schneiders (Rauch) und Daniel Eggert (Speer) kaufen sich als betuchte alte Herren, als »geile Hirsche« fies grinsend das Vergnügen nicht nur von den leichten Mädchen (Barbara Carta und Tamar Sharon Hufschmidt).

Mit einer Fülle von Fragen verlässt der Zuschauer das Theater. Leere, Ziellosigkeit, Betäubung, Sinnlosigkeit im Party machen, Streben nach Gewinn und Erfolg, Erpressung, sexuelle Ausschweifungen – die »Tagesthemen« sind voll davon.
Hält die Liebe da stand?

Alle Fotos: Tim Müller