Philip Foxman & Danny Ginges über »Atomic« in Wetzlar: Es geht um die Frage »Was ist richtig und was ist falsch? – Und wie sollen wir das wissen?«

Die Autoren des australischen Musicals im Interview über die europäische, deutschsprachige Erstaufführung in Wetzlar

Danny Ginges
Foto: Goetheschule Wetzlar

Am 21. Juli 2022 feiert das Musical »Atomic« seine europäische, deutschsprachige Erstaufführung an der Goetheschule Wetzlar.

United Musicals: Herr Ginges, worum geht es in »Atomic«?

Danny Ginges: »Atomic« erzählt anhand der Biographie von Leó Szilárd die Geschichte der ersten Atombombe. Es geht um Wissenschaftler, die das Richtige tun wollen, aber nicht wissen, ob ihre Entscheidungen wirklich richtig sind. Jüdische Flüchtlinge aus Europa arbeiten gemeinsam mit dem US-Militär an der stärksten, jemals dagewesenen Waffe, um Hitler zu besiegen. Als Deutschland jedoch kapituliert, wird ihnen klar, dass der Geist, den sie riefen, nie wieder in die Flasche zurückkehren wird. Mit dieser Erkenntnis geht jeder anders um. Letztlich geht es um die Frage »Was ist richtig und was ist falsch? – Und wie sollen wir das wissen?«

Alle Personen in »Atomic« haben ein historisches Vorbild und die Geschichte hat sich im Großen und Ganzen genauso zugetragen.

UM: Wer war dieser Leó Szilárd und weshalb wurde ausgerechnet er zur Hauptfigur in Ihrem Musical?

DG: Ich wusste nicht viel über das Manhattan Project, bis ich im Urlaub ein Buch darüber gelesen habe, in dem immer wieder ein Name vorkam, den ich nicht kannte: Leó Szilárd. Die meisten anderen Personen wie Albert Einstein und Robert Oppenheimer oder auch Niels Bohr und Enrico Fermi waren mir natürlich ein Begriff, aber dieser Mann, der bei praktisch jedem Schritt hin zur Atombombe an entscheidender Stelle involviert war, fehlte in den meisten Dokumentationen über diese Zeit. Ich fand ihn absolut faszinierend, recherchierte weiter und las unter anderem das sehr gute Buch »Genius in the Shadows« von William Lanouette und die Textsammlung »Leó Szilárd: His Version of the Facts«. Da wurde mir klar, dass dies eine so dramatische Geschichte ist, dass ich sie einfach erzählen muss.

Szilárd wurde in Ungarn als deutschsprachiger Jude geboren, studierte in Budapest und floh dann wegen des zunehmenden Antisemitismus# nach Berlin, wo er mit einigen der wichtigsten Wissenschaftlicher des 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise Albert Einstein zusammenarbeitete. Er meldete unfassbar viele Erfindungen zum Patent an. Nach dem Reichstagsbrand ging er zunächst nach Wien, danach nach London. Dort meldete er zwei geheime Patente auf die nukleare Kettenreaktion und die Atomenergie an. Als ein Krieg in Europa immer wahrscheinlicher wurde, reiste er in die USA und traf dort auf Dutzende andere bedeutende Physiker, die er schon aus Europa kannte. Er war am Bau des ersten funktionierenden Atomreaktors beteiligt. Als er jedoch hörte, dass in Deutschland auch an der Atomenergie geforscht wurde, überzeugte er zusammen mit Einstein den Präsidenten der USA davon, das größte militärische Forschungsprojekt aller Zeiten zu starten. Szilárd sah voraus, dass ein Wettrüsten mit der Sowjetunion bevorstand. Nachdem Deutschland kapituliert hatte, wollte er den weiteren Bau, Test und Einsatz der Bombe verhindern. Seine Petition an den Präsidenten erreichte diesen aber nie und blieb 30 Jahre eine militärische Geheimakte. Nach dem Abwurf der Bomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki wandte sich Szilárd von der Atomphysik ab und ging in die biologische Forschung. Gleichzeitig wurde er ein wichtiger Friedensaktivist.

UM: Wie bringen Sie diesen komplexen Inhalt in eine Bühnenfassung?

DG: Natürlich mussten wir die historischen Ereignisse straffen und zum Beispiel Szilárds Privatleben deutlich weniger komplex machen, damit der Zuschauer dem Kern der Geschichte gut folgen kann. Im Grunde ist die Handlung sehr klar und die Zuschauer wissen ja auch schon, was im Groben passiert. Wir müssen den ganzen Zweiten Weltkrieg nicht mehr erklären.

Philip Foxman
Foto: Goetheschule Wetzlar

Philip Foxman: Wir waren offen dafür, auf welche Art wir diese Geschichte erzählen könnten. Zuerst dachten wir an das Medium Film, weil das der Bereich aus dem Danny kommt. Doch irgendwann wurde uns klar, dass ein Musical einfach die beste Form für unsere Version der Geschichte, und wie wir sie erzählen wollen, ist. Bis dahin gab es auch noch kein Musical zu diesem Thema …

DG: Die Geschichte des Manhattan Project und auch sonst Themen rund um die Moral der Wissenschaft bzw. der Atombombenforschung wurden in vielen Formen erzählt, zum Beispiel in Friedrich Dürrenmatts Drama »Die Physiker«. Es gibt auch eine Oper zu diesem Thema und unzählige Filme. Doch ein Musical eröffnet einen ganz einzigartigen Zugang zum Inneren der Figuren und dem was in ihnen vorgeht.

UM: Welche Entwicklung hat das Musical schon hinter sich?

DG: Zunächst gab es 2013 ein Reading und einen Workshop in Australien, um das Stück zu entwickeln und unsere Idee zu prüfen. Das Stück ist mit einem sehr leichten Ton gestartet und dann – mit dem Feedback des Publikums – deutlich ernster geworden.

PF: Wobei es immer noch sehr viel Humor enthält!

DG: Das stimmt. Wir glauben nicht, dass die Geschichte funktionieren würde ohne humoristische Elemente. Dies würde auch unseren Figuren nicht gerecht werden, die für ihren teils sehr speziellen Humor bekannt waren. Jedenfalls sind wir dann nach dem Workshop mit einer kleinen Off-Broadway-Produktion für einen Monat gestartet. Dieser Schritt hat sehr viel für die weitere Entwicklung des Stücks gebracht: Wir haben danach ein neues Buch geschrieben, das deutlich ernster wurde und sich mehr mit den geschichtlichen Ereignissen rund um die Haupthandlung befasst.

PF: Direkt nach der Spielserie in New York City haben wir auch ein Studioalbum produziert und die ersten beiden Produktionen, die wir nicht selbst auf die Bühne gebracht haben, nach draußen lizenziert – an zwei sehr renommierte, regionale Theater in den USA. Jenen haben wir angeboten, dass sie die Fassung spielen können, die sie in New York gesehen haben oder das neue Buch, beide haben sich für die Neubearbeitung entschieden. Das war 2016 und die nächste Produktion war erst Ende 2018 in Denver.

DG: Vorher gab es allerdings schon unseren ersten Kontakt mit der Goetheschule in Deutschland.

UM: Wie kommt es, dass nach den professionellen Produktionen in den USA und Australien die europäische Erstaufführung an einer Schule stattfindet?

PF: Sie waren unter den Ersten, die sich ernsthaft dafür interessiert haben! (lacht)

Arthur Compton und Leó Szilárd legen ihren Streit bei – Leó ist zurück im Manhattan Project
Foto: Svenja Kugler

DG: Michel Honold von der Goetheschule hatte unsere wunderbare Agentin in Australien kontaktiert und gesagt, dass sie dieses Musical 2020, passend zum 75. Jahrestag der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, spielen möchten. Sie wollten ein Stück mit relevantem Inhalt. Unsere Agentin und wir haben uns angeschaut, was die Goetheschule davor gemacht hat und das hat uns überzeugt, dass dies das richtige Theater für uns ist. Die Musicalgruppe hat einen sehr guten Ruf und schon viele Erstaufführungen gespielt – was gut genug ist für Andrew Lloyd Webber und Cameron Mackintosh muss es auch gut genug für uns sein. Wir haben viele Bilder und Videoaufnahmen gesehen und die Qualität hat uns überzeugt, auch wenn es kein professionelles Theater ist. Seitdem gab es aber auch jeweils eine Amateuraufführung in den USA und Australien.

UM: Haben Sie schon etwas von der deutschen Produktion gesehen oder gehört?

PF: Wir werden ständig mit Material aus Wetzlar versorgt und sind in sehr gutem Kontakt mit dem Theater. Und was wir sehen und hören, macht einen sehr guten Eindruck. Die Produktion in Wetzlar ist die erste in einer anderen Sprache und für uns ist die Übersetzung sehr spannend. Von manchen Songs haben wir Videos gesehen und ›What I Tell Myself‹ (dt.: ›Was ich mir erzähl‹) und ›Headlights‹ (dt:: ›Scheinwerferlicht‹) sind auch auf Deutsch tolle Songs (Die deutsche Übersetzung stammt von Julian Goletzka, Anm. d. Red.)

DG: Man merkt, dass sich Darsteller und Kreativteam sehr intensiv mit den Figuren und der Geschichte befasst haben. Es ist wahrscheinlich die intellektuellste Produktion von »Atomic« bisher. Das merkt man auch in den Videos, die die Darsteller gemacht haben. Zudem erreichen uns aus Wetzlar sehr detaillierte Fragen zum Buch, über die ich auch selbst nachdenken muss und dann entdecke ich neue Aspekte in meinem eigenen Text. Wenn jemand einen Text übersetzt, geht er ja nicht nach einer wörtlichen Bedeutung vor, sondern es geht darum, im Detail zu verstehen, was wir gemeint haben, um dies dann passend auf die Musik in neue Worte zu fassen. Zum Beispiel hat der Übersetzer Julian Goletzka in einem Song mit einem Zitat aus Goethes »Faust« gearbeitet. Die Parallele zu »Faust« hatte ich zuvor noch nicht erkannt, aber sie passt perfekt.

PF: Wir freuen uns auch sehr, dass die Produktion die erste mit einer wirklich großen Cast und noch dazu der vollen musikalischen Besetzung ist.

New York 1960: Die Angst vor der Atombombe geht um
Foto: Svenja Kugler

UM: Was bedeutet es für Sie, dass dieses Stück jetzt nach Deutschland kommt?

DG: Die Geschichte von »Atomic« beginnt in Deutschland und es geht um viele Menschen mit einem starken Bezug zu diesem Land. Deutschland war vor der Machtergreifung der Nazis das weltweite Zentrum der physikalischen Forschung und fast alle bedeutsamen Entdeckungen in dieser Zeit wurden an deutschen Universitäten gemacht. Und gleichzeitig ist Nazi-Deutschland auch der Auslöser des Krieges mit all seinen Folgen. Ohne Hitlers Machtergreifung hätte es zwar sicherlich auch irgendwann Atombomben gegeben, aber nicht so schnell und vielleicht wären sie nie über einer Stadt abgeworfen worden. Die Menschen in Deutschland wissen um ihre schwierige Vergangenheit und die Erinnerung an diese Zeit ist ihnen sehr wichtig. Da passt »Atomic« sehr gut hinein.

PF: Deutschland war auch das ursprüngliche Ziel der Atombomben. Hätte Deutschland nicht vor Fertigstellung der ersten Bombe kapituliert, wären Städte wie Siegen, Mannheim, Ludwigshafen oder Kassel damit bombardiert worden. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg war dem Militär auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs klar, dass, wenn die Atombombe eingesetzt wird, dann an der Grenze zwischen beiden Blöcken, die direkt durch Deutschland verlief.

DG: Deutschland ist auch ein Land mit einer sehr reichen Kultur an Theatern und nach New York und London der wichtigste Ort für Musicalproduktionen.

UM: Werden Sie sich die Produktion in Wetzlar ansehen?

DG: Wir planen, zur Premiere nach Deutschland zu kommen. Ich komme mit meiner Frau und meinen Kindern.

UM: Wie geht es nach der europäischen Erstaufführung in Wetzlar mit »Atomic« weiter?

DG: Durch die Pandemie haben sich viele Pläne geändert und Produktionen verschoben, aber es wird weitere Produktionen geben. Und wir hoffen natürlich auch, dass die deutsche Übersetzung in weiteren Produktionen gespielt wird.

PF: Wir arbeiten auch an einer Verfilmung von »Atomic« für einen Streamingservice.