Regisseur Chris Murray über »Titanic« am Theater Pforzheim

»Mir ist es wichtig, dass wir die Geschichte spannend, zugänglich und emotional aufregend erzählen«

Vor der inzwischen wegen des Coronavirus verschobenen Premiere des Musicals »Titanic« in Pforzheim hatten wir Gelegenheit, mit dem Regisseur Chris Murray über seine Pläne für das Stück zu sprechen.

TITANIC Interview Chris Murrayc privatUnited Musicals: Was ist für Sie das Wichtigste an der Inszenierung des Stücks?

Chris Murray: Dass sich keiner langweilt. Ich bin selbst oft genug im Publikum und auch auf der Bühne gewesen, dass ich es als eine kolossale Todsünde empfinde, wenn durch künstlerische Überheblichkeit die Botschaft eines Stücks nicht so vermittelt wird, dass es die Menschen interessiert.
Ich habe schon grandiose, »gewollte« Inszenierungen gesehen, die einfach niemanden erreicht haben. Das ist wie ein Bild im Dunkeln zu malen. Mir ist es wichtig, dass wir eine Geschichte spannend, zugänglich und emotional erzählen.
Wir wissen bei der »Titanic«, dass alle tot sind und das Schiff am Ende untergeht – das ist alles schon vorher bekannt. Nicht gegeben ist die Erzählweise. Wir werden die Geschichte spannend und jetzig erzählen, sodass das Thema die Menschen von heute wieder interessiert.

UM: Was ist die Grundaussage des Stücks?

CM: Es geht um die Schuld und Erlösung von Thomas Andrews. Er hat das Schiff konstruiert, entworfen und auch bauen lassen. Er war der Hauptarchitekt und Erbauer. Ihm wurden aber in Sachen Sicherheit, um Geld zu sparen, bestimmte Sachen verwehrt, die dann fatale Folgen nach sich zogen. Es sind Tausende von Menschen gestorben, weil sie ihm verboten haben, die Schottenwände noch zwei Meter höher zu machen. Es sind Tausende von Menschen gestorben, weil sie die Hälfte der Rettungsboote wegrationalisiert haben, damit man auf der Erste-Klasse-Promenade schön spazieren gehen kann. Sonst wäre es da voll mit Booten gewesen. Diese Schuldfrage ist furchtbar. Und damit zu leben, dass man weiß, dass alle diese Menschen dem Tod geweiht sind … denn er wusste innerhalb von nur einer Viertelstunde, nachdem das Unglück passiert war, was für eine Worst-Case-Situation das bedeutete: dass das Schiff einen Schlitz aufwies, der die ganze Seite des Schiffs entlang lief, wodurch das Wasser die wasserdichten Schotten übersprungen hatte.
Wäre die »Titanic« direkt geradeaus in den Eisberg gefahren, wäre sie nicht gesunken. Höchstens die Leute, die zufällig vorn im Schiff waren, hätten darunter gelitten oder wären gestorben.
Andrews wusste, dass Dreiviertel der Menschen auf dem Schiff sterben würde. Und er wusste, dass es seine Schuld war. Er führt uns in das Stück ein, er führt uns durch das Stück, wir sehen das Ganze durch seine Augen, und er ist der einzige, der am Schluss eine große Arie hat, in der es darum geht, dass er sich schuldig fühlt. So ist es auch vom Autor geschrieben.
Ich bin öfter in Museen gewesen und habe mir immer vorgestellt, was wäre, wenn diese Objekte sprechen könnten. Was für eine Geschichte würden sie erzählen. Und deshalb lasse ich Andrews aus dem Nebel der Vergangenheit, der Vergessenheit in einem Museum mit »Titanic«-Artefakten auferstehen und diese Nacht neu erleben. Wie oft er sie neu erlebt hat, weiß ich nicht, das will ich auch nicht benennen, aber für ihn ist es ein Alptraum, der immer wieder kommt. Er fühlt sich schuldig. Dass er diese ganzen Menschen durch seine Nachgiebigkeit gegenüber dem Geld und der Macht geopfert hat, indem er gesagt hat, ach in Ordnung, dann sparen wir halt 40 Tonnen Stahl, indem wir die Wände nicht so hoch machen. Und dann ist eben das Wasser darüber geschwappt.

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Titanic: The Artifact Exhibition im Luxor Hotel und Casino in Las Vegas
Foto: Ingrid Kernbach

UM: Demnach beginnt die Produktion mit Artefakten. Welche sind das?

CM: Ja! Wir haben die Geige von Wallace Henry Hartley, dem Bandleader der 8-köpfigen Kapelle auf der Titanic. Die Original-Geige wurde an seinem toten Körper angebunden gefunden. Diese Geige spielt bei uns mit. Hartley tritt aus dem Nebel des Vergessens heraus, nimmt sich seine Geige und geht damit auf das Schiff.
Isidor und Ida Straus, die Gründer des Kaufhauses Macys, Millionäre, haben sich geweigert ins Rettungsboot zu gehen, weil so viele jüngere Menschen an Bord waren und Ida zu krank war, um von Bord zu gehen. Daraufhin hat er gesagt, nein, ich bleibe bei meiner Frau. Sie waren 50 Jahre verheiratet. Sein Körper wurde gefunden, sie leider nicht. Aber er hatte seinen Ehering noch bei sich, der eine Geschichte erzählen kann.
Es sind ja tausende von Schmuckstücken und Artefakten geborgen worden. Was, wenn diese sprechen könnten?
Welches Leid, welche Freude, welche Träume würden sie uns erzählen. Diese Dinge würde ich gerne zum Leben erwecken und zu Wort kommen lassen.

UM: Gibt es nicht gewisse Vorgaben, wie das Stück zu sein hat?

CM: Wir verändern das Stück nicht. Das Stück ist, wie das Stück ist. Wir legen nur eine andere Erzählstruktur darüber. Es erhält nur einen anderen Ansatz, alles andere bleibt gleich. Wir spielen einen Traumraum, der durch die Gedanken von Andrews zum Leben erweckt wird. Dann tritt der Mensch auf und erzählt uns seine Geschichte. Dies ist eine wunderbare Erzählstruktur, die aber nicht ich erfunden habe. Man schaue nur auf die großen Klassiker wie zum Beispiel »Evita«, in dem es Che ist, der uns die Geschichte erzählt, oder »Elisabeth«, wo Luigi Lucheni ihre Geschichte erzählt. Wir erfinden ja alle das Rad nicht neu. Aber das macht es für mich greifbar.
Es wird auch alle die großen Szenen von »Titanic« geben, aber wie in einer Traumwelt. In dieser Traumwelt kommen die Figuren vor und werden alle integer und korrekt gespielt. Sie sprechen alle ihre eigene Wahrheit aus.
In keiner Inszenierung der Welt wurde je die echte »Titanic« auf die Bühne gestellt, auch bei uns nicht. Aber wir werden Räume schaffen, in denen wir dem Publikum erlauben, zu uns auf die Bühne zu kommen und das Stück mit abzufeiern und zu erleben.

UM: Werden alle 20 Lieder des Stücks erklingen?

CM: Ja, es sind natürlich alle Lieder mit dabei, nur ein Titel bewegt sich an eine andere Stelle. Und leider fehlt im Klavierauszug für das Duett ›Nur 3 Tage‹, das für Hamburg verfasst wurde, das Notenblatt. Aber wir haben ein tolles Stück, dass immerhin 2 ½ Stunden lang ist. Und wir werden es auf jeden Fall spannend erzählen.

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Theater Pforzheim – Blick von der Hinterbühne mit Technik in den Zuschauerraum. Foto: (c) Chris Murray

UM: Wer hatte die Idee, das Stück nach Pforzheim zu holen?

CM: Das war Thomas Münstermann, der Intendant des Theaters. Er hat damit viel Mut und Vorhersehung bewiesen. Es ist ein großes Stück und wir spielen die große Orchesterfassung, was fast einzigartig ist, mit der Badischen Philharmonie Pforzheim. Das ist einfach wunderbar. Ich weiß nicht, ob »Titanic« schon einmal mit einem Symphonieorchester gespielt wurde. In der Großproduktion waren bestimmt viel weniger Musiker und in Bad Hersfeld hat man kein Symphonieorchester. Es ist wirklich eine ganz große Chance, in Pforzheim das Stück mal so zu hören, wie es der Komponist gemeint hat.

UM: Können Sie das alles mit dem vorhandenen Ensemble bewältigen?

CM: Wir haben ein paar wunderbare Gäste. Andrea Mathias Pagani wird die Schlüsselrolle des Andrews spielen. Er macht seine Sache wunderbar. Außerdem haben wir als Funker Harold Bride, Benjamin Savoie (Renfield in »Dracula«, Anm. d. Red.). Auch das Ensemble des Hauses ist großartig und voll motiviert. Ich selbst spiele den Heizer Frederick Barrett.

UM: Ist es für Sie nicht schwierig, Regie zu führen und gleichzeitig zu spielen?

CM: Deshalb habe ich bewusst nur die kleine Rolle des Barretts genommen. Bei seinem ersten Lied ist sonst keiner auf der Bühne. Er singt sein Lied und geht wieder ab. Und im zweiten Akt ist er nur ganz sporadisch da und hilft den Menschen aus der 3. Klasse. Bei »Jesus Christ Superstar« im Sommer habe ich die Erfahrung gemacht, dass es schwierig ist, eine größere Rolle zu spielen und gleichzeitig Regie zu führen. Denn der Blick von außen ist immer anders als der von der Bühne. Deshalb bin ich auch sehr froh, Janne Geest als Co-Regisseurin dabei zu haben, die dann auch immer da ist und immer schaut. Auch bei den Szenen, in denen ich auf der Bühne bin. Ihre Hilfe ist unbezahlbar und nur mit ihr kann ich das auch so »wuppen«.

UM: Jetzt gibt es noch eine Besonderheit beim Make-up. Was genau haben Sie sich dafür ausgedacht?

CM: Ja, wir machen ein »Cel Shading Make-up« (Computerspieler kennen es aus dem Spiel »XIII« oder »Borderlands«). Das ist eine Art comicartige Überzeichnung der Konturen. Ich möchte es ein bisschen auf eine andere Ebene transferieren, aber nicht so verfremden, dass man sagt: »Igitt, was ist das denn!« Rosa Haar und grüne Lippen, das nicht, denn das reißt uns wieder aus der Realität heraus. Doch ich möchte auch nicht, dass die Leute auf der Bühne privat aussehen. Ein bisschen eine Stilisierung tut der Sache gut. Damit der Glaubenssprung für das Publikum in diese Traumwelt der wiederbelebten Geister der Titanic kürzer ist.

UM: Welche Unterschiede zum Film gibt es?

CM: Der Film hat einen anderen Ansatz. Ich glaube, dass die Macher des Musicals fast einen Herzanfall bekommen haben, als 7 Monate nach der Musicalpremiere von »Titanic« der Film Premiere hatte und einschlug wie eine Bombe. Denn der Film ist wirklich ein Phänomen, auch die Musik von James Horner ist unglaublich stark. Doch der Film erzählt eigentlich eine »Romeo und Julia«-Geschichte auf der »Titanic«. »Titanic – Das Musical« erzählt wahrheitsgetreu fast nur Geschichten, die wirklich auf der »Titanic« stattfanden. Jack und Rose gab es in Wirklichkeit nie, das ist tatsächlich nur eine erdachte Geschichte für den Film. Das ist alles wunderschön und war für den Film eine Möglichkeit, die Geschichte als Rückblick zu erzählen, aber beim Musical wurde großer Wert darauf gelegt, dass jeder der da auftritt, auch tatsächlich gelebt hat. Die Autoren haben auf Authentizität und Korrektheit sehr viel Wert gelegt. Das finde ich sehr wichtig und dem will ich auch gerecht werden.

Vielen Dank für das schöne und informative Gespräch. Wir drücken die Daumen, dass die Premiere im Theater Pforzheim bald stattfinden kann.