Weniger ist manchmal mehr – »Halt Mich« – Musicalproduktion der MFG mit den Songs von Herbert Grönemeyer

»Halt Mich« heißt die jüngste Produktion der semiprofessionellen Musical Factory Gardelegen (MFG), welche nach einem großen Erfolg 2012 erneut vom 13. April bis 1. Juni auf Deutschland-Tournee war.

halt-mich-Musical-Factory-GardelegenDie Musical Factory Gardelegen entstand 2000 als eine reine Schul-Musicalgruppe und besteht heute aus einem semiprofessionellen Ensemble. Manche Darsteller wirken bereits seit mehreren Produktionen bei MFG mit, so führte die Gruppe auch schon größere Musicals wie »Elisabeth«, »Jekyll & Hyde«, »In 80 Tagen um die Welt« oder »Der kleine Horrorladen« auf.
Bereits seit einigen Jahren arbeitet MFG im Rahmen der Projektreihe »Mittendrin Wir« mit Sänger Herbert Grönemeyer zusammen, der für dieses Projekt die Schirmherrschaft innehat. Die Reihe will psychisch kranken Menschen und ihren Angehörigen helfen, über ihre seelischen Leiden zu sprechen.
Inspiriert von dieser Zusammenarbeit entwickelte Regisseur Volker Winkel 2011 die Idee für das Musical »Halt Mich« mit den Hits von Herbert Grönemeyer, welches jetzt unter anderem am 30. Mai im »Goldenen Pflug« in Altenburg zu erleben war.

Es geht um Träume, Alltagstrott, Freiheit, Sehnsucht und vor allem um Liebe: Marie und Willi haben sich auseinander gelebt. Die Routine hat sich in ihre Beziehung geschlichen, die Leidenschaft erlöschen lassen, ihre Träume entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen. Willi ist der liebe und brave Ehemann, der das Geld nach Hause bringt und von einem ruhigen Leben mit seiner Frau träumt. Marie möchte mehr, sie möchte Freiheit, etwas erleben – das findet sie in Musiker Sky, der ihr eine neue Welt voller ungeahnter Möglichkeiten eröffnet.
Als Willi von der Affäre erfährt, ist er zutiefst verletzt, trennt sich von Marie und wirft sie aus der gemeinsamen Wohnung. Er möchte alle Erinnerungen an seine Zeit mit Marie vernichten, doch sein bester Freund Charlie hält ihn davon ab und schlägt stattdessen Alkohol, Party und gemeinsame Erinnerungen als Ablenkungen vor …
Und so irren Willi, Marie, aber auch Charlie und Erika, Curry-Buden-Besitzerin und eine gute Freundin Maries, umher – auf der Suche nach Sinn und Liebe und jemandem, der sie festhält.

Das Motto der MFG könnte lauten: »Weniger ist mehr!« Das Bühnenbild von Stefan A. Schulz kommt mit wenigen Requisiten aus, wie einer Bank oder einem multifunktionellen Tisch, einer stilisierten Curry-Bude, ergänzt von einer Leinwand für Videoprojektionen (Maik Thesing), welche stimmungsvoll das Geschehen untermalen, etwa, wenn Marie und Sky in einem Riesenrad sitzen, und der Platz auf der extrem kleinen Bühne in dem eigentlich als Turnhalle genutzten »Goldenen Pflug« wird so optimal ausgenutzt. Manuelle Szenenwechsel durch Bühnenarbeiter lassen sich kaum vermeiden, zum Teil werden die nötigen Umbauten aber auch vom Ensemble übernommen. Teilweise bespielen die Darsteller auch den Zuschauerraum und schaffen es so, die vierte Wand einzureißen – obwohl diese ohnehin nicht besonders stark ist an diesem Abend, denn die Hits Grönemeyers, die sehr passend in die Handlung integriert wurden, sind so bekannt und beliebt, dass einige Zuschauer fleißig mitsingen – im zweiten Teil dürfen sie das sogar ganz offiziell, indem sie immer wieder an passender Stelle »Currywurst« rufen.

Jens Krüger ist Willi: Er hat unter anderem mit ›Der Weg‹ oder ›Flugzeuge im Bauch‹ zwei der emotionalsten Titel des Abends, bei denen er stimmlich überzeugen kann. Schauspielerisch zeigt er gutes Potential mit etwas Luft nach oben, gefällt aber vor allem im humorvollen Zusammenspiel mit Willis bestem Freund Charlie. Dieser wird gespielt von Chris Meloni, der eine der witzigsten und damit dankbarsten Rollen des Stückes hat und im Publikum für einige Lacher sorgt – unter anderem durch Witze wie: »Kommt ein Dalmatiner an die Tankstelle. Fragt die Kassiererin: Sammeln Sie auch Punkte?« Außerdem kann er mit guter Stimme und differenziertem Schauspiel überzeugen – die Duette mit Willi, Alkohol und Männer, werden zu Highlights des Abends.
Der Grund für Willis schlechte Stimmung ist Marie, verkörpert durch Kristin Müller. Wie alle Solisten überzeugt auch sie durch eine angenehme Gesangsstimme – was vor allem für Frauen bei manchen eigenwilligen Vorlagen von Herbert Grönemeyer nicht ganz einfach sein dürfte. Ihr Schauspiel ist noch ausbaufähig, doch im Zusammenspiel mit den anderen Darstellern gelingt ihr meist eine glaubhafte Darstellung der inneren Zerissenheit zwischen Maries Mann und ihrer Affäre Sky. Jonas Schmidt als dieser neue Liebhaber muss gleich in doppelter Hinsicht überzeugen: auf der einen Seite der charmante, romantische Mann, in den sich Marie verliebt und auf der anderen Seite der machohafte Musiker, der mit allen Mitteln seine Karriere vorantreiben will – dem jungen Darsteller gelingt dieses Spagat authentisch, er verfügt zudem über einen guten Stimmumfang.

In den kleineren Rollen stehlen Anne Wandrey sowie Mirjam Misterfeld und Ulf Wilmaerstedt den Hauptrollen teilweise fast die Show.
Anne Wandrey als Erika, deren Imbissstand zum zentralen Treffpunkt der Hauptfigurenwird, nimmt vor allem mit einem stimmstarken ›Bochum‹, das zusammen mit den Tänzern aus dem Ensemble zu einem Höhepunkt wird, und einem gefühlvollen ›Unbewohnt‹ für sich ein.
Mirjam Misterfeld und Ulf Wilmaerstedt spielen das ältere Ehepaar Gerda und Herrman, die schon »55 Jahre 4 Monate und 10 Tage« ein Paar, aber noch gar nicht alt und verstaubt sind, wie Gerda in ihrem Solo Diamant, inklusive Angriff auf die Lachmuskeln des Publikums, und beide später mit einigen Tanzeinlagen beweisen. So mausern sich diese beiden niedlichen, jung gebliebenen Alten schnell zu heimlichen Publikumslieblingen.

Außer den bereits Genannten stehen als Tänzer und Backgroundsänger vier Damen und zwei Herren auf der Bühne: Christina Marie Bünsow, Anna Bosse, Stephanie Friedrich, Patricia Thanel, Thomas Kuschel und Ruslan Wellner setzen die einfachen, aber passenden Choreographien von Franziska Kobert passend um und bereichern so zum Beispiel das Finale des 1. Aktes, Zeit, dass sich was dreht, welches hier als Quartett neuartig und interessant dargeboten wird, oder auch das Titellied ›Halt Mich‹. Aber auch im zweiten Teil kann das Ensemble glänzen, zum Beispiel bei Kinder an die Macht, in dem die Tänzer auch solistisch ihr Können zeigen dürfen. Thomas Kuschel bereichert zudem die Ballade ›Flugzeuge im Bauch‹ durch gekonntes Live-Gitarrenspiel live auf der Bühne – eine schöne Abwechslung zu den restlichen Titeln, bei denen aus Platzmangel die Instrumentalplaybacks vom Band kommen.

Kostümtechnisch hat vor allem das Ensemble mehrere Umzüge zu absolvieren, die Hauptdarsteller kommen mit größtenteils einem Outfit aus, doch Diana Hintz und Bettina Kobert sorgen durchweg für passende und zeitgemäße Kleidung.
Thomas Winkel und Normen Heckert leuchten das Geschehen schlicht, doch adäquat aus und sorgen unter anderem bei Zeit, dass sich was dreht doch dafür, dass in der nüchternen Turnhalle Atmosphäre entsteht.
Die Tontechnik (Nils Lauterbach) hat anfänglich noch ein paar Einstellungsprobleme, doch nach einigen Minuten sind diese behoben, die Playbacks klingen klar und alle Solisten sind gut zu verstehen.
Durch die unterschiedlichen Stimmlagen der Solisten und die verschiedenen Darbietungen der Songs, mal als Soli, mal als Duette, Quartette oder ganze Ensemblelieder erklingen die bekannten Hits Grönemeyers in einem neuen, sehr spannenden Gewand – ein weiterer Pluspunkt des Stücks.

Mit »Halt Mich« ist Ideengeber und Regisseur Volker Winkel eine reizvolle Inszenierung gelungen, die Lust macht auf weitere Projekte der MFG und zeigt, dass man auch mit wenigen Mitteln etwas erreichen kann.
Wie es am Ende ausgeht, ob Marie und Willi wieder zusammenfinden, oder doch getrennte Wege gehen, das soll hier nicht verraten werden – doch man kann sagen, das Stück ist nicht nur eine Abfolge von Grönemeyer-Hits, es ist auch ein Plädoyer für die Liebe und dafür, an die eigenen Träume zu glauben, mit genau der richtigen Balance zwischen Witz, Gefühl und Action.
Und spätestens bei den beiden Zugaben Mambo und Männer stimmen dann auch bis dahin weniger singfreudige Zuschauer begeistert mit ein.

Lisa-Maria Wendland