„Singen ist Leben“ – Jan Ammann im Exklusiv-Interview zu ‚Jekyll und Hyde‘

Der Probenbeginn für die Neuinszenierung von Frank Wildhorns „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“ in Bad Hersfeld rückt näher. Während der Vorbereitungsphase hatten wir Gelegenheit, mit Hauptdarsteller Jan Ammann ausführlich über seine neue Rolle zu sprechen.

MC24: Herr Ammann, Sie werden im Sommer in Bad Hersfeld die Hauptrolle in „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“ übernehmen. Wie begann Ihre Zusammenarbeit mit den Bad Hersfelder Festspielen?

JA: Ich war bei der Audition in Berlin. Fast acht Jahre habe ich gewartet, bis ich jetzt zum ersten Mal überhaupt für dieses Stück vorgesungen habe. Der ausschlaggebende Punkt für mich war, dass Jekyll & Hyde eines meiner absoluten Lieblingsmusicals ist – entsprechend groß ist die Erwartung, die ich an mich selber habe. Ich weiß, dass diese Rolle eine der größten Herausforderungen überhaupt darstellt, das Maximum dessen, was man als Sänger leisten kann. Es ist einfach anstrengend. Es ist schwer. Du bist stundenlang auf der Bühne. Du musst nicht nur gesanglich ins absolute Extrem gehen, sondern auch vom Schauspiel her. Ich finde, an so eine Rolle kann man sich erst dann heranwagen, wenn man schon ein paar andere Rollen gespielt und vielleicht auch selbst schon ein bisschen mehr gelebt hat. Wenn da so ein ‚Jungspund’ singt, dann kann das ganz nett sein und er kann das herzergreifend singen und ganz toll machen. Aber wahrscheinlich ist es gar nicht möglich, den Konflikt, um den es ja geht, wirklich authentisch zu vermitteln, wenn der Mensch, der die Rolle verkörpert, das Leid vielleicht noch gar nicht erlebt hat. Und so auch gar nicht wissen kann, wie man sich menschlich diesem Konflikt nähert. Ich bin jetzt mit 32 Jahren auch noch nicht wirklich alt. Eigentlich bin ich sehr jung für diese Rolle. Aber für mich ist jetzt einfach der richtige Zeitpunkt gekommen. Und dann – Bad Hersfeld. Ich wollte immer schon dort spielen. Jekyll UND Bad Hersfeld… die Möglichkeit, zwei Träume auf einmal zu verwirklichen, wird so schnell nicht wieder kommen. Also dachte ich, ergreif’ die Chance und sing vor. Und es war ein Treffer. Dabei war die Audition hart. Echt hart…

MC24: Inwiefern?

JA: Es waren sehr viele gute Leute da, das Niveau war insgesamt sehr hoch. Und dann… die Räumlichkeiten waren recht schwer zu ‚besingen’, weil es in einem Foyer mit Teppichboden stattfand, der natürlich viel Klang geschluckt hat. Hinzu kam noch, dass ich zu meinem Unglück das falsche Material vorbereitet hatte. Es gab da einfach ein Missverständnis – ich sollte die ‚Konfrontation’ vortragen, hatte aber ein anderes Lied vorbereitet. Ich bekam einen zweiten Termin am nächsten Morgen um 9.30 Uhr. In der Nacht habe ich die ‚Konfrontation’ auf deutsch gelernt. Bis zum Morgen. Bis halb 4 hab’ ich gesessen… und stand dann um halb 10 wieder auf der Matte. Einsingen konnte ich mich nicht, um diese Zeit waren die Räume noch abgeschlossen (lacht). Aber das war vielleicht gut so. Ich stand unter Strom und konnte gar nicht mehr nachdenken.

Ins Extrem gehen

Foto: privat

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MC24: Worin sehen Sie die besondere Herausforderung der Rolle des Dr. Jekyll?

JA: Nun, es ist eine Doppelrolle – aber dennoch eine Person. Der darstellerische Aspekt birgt so seine Tücken. Dieser Jekyll ist ein sehr intelligenter, recht gut aussehender, eleganter Aristokrat, der sich charmant durchs Leben schlängelt. Innerlich aber ist er völlig zerrissen, geradezu besessen von der fixen Idee, das Gute vom Bösen im Menschen zu trennen. Diesen Wahn trägt er bereits in seinem normalen Erscheinungsbild als Dr. Jekyll in sich. Dieser Jekyll ist schon beides, gut und böse. Beide Extreme, beide Seiten muss ich darstellen.

Heute, im Zeitalter der Psychoanalyse, wissen wir natürlich, dass es unmöglich ist, das Gute vom Bösen zu isolieren. Damals hat man aber daran geglaubt. Da ist Dr. Jekyll, der ‚das Gute’ verkörpert. Er glaubt, mit dem Elixier das Mittel gefunden zu haben, sich ‚des Bösen’ zu entledigen, indem er es einfach abspaltet. Aus heutiger Sicht würde man vielleicht sagen, dass diese Droge zu einer Art psychischen Enthemmung führte. Oder ihn vielleicht einfach als schizophren einstufen. Er nimmt die Droge – und ist immer noch Jekyll. Aber Jekyll als Hyde. Er lebt als Hyde völlig hemmungslos und exzessiv alles aus, was er an Aggressionen und Mordlust als Dr. Jekyll bereits in sich hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch diese dunkle Seite hat. Nur, im Normalfall hat man das natürlich unter Kontrolle.

MC24: Klar. Sonst würde man ja…

JA: Genau. Aber Jekyll hat eine Möglichkeit gefunden, ins Extrem zu gehen. Das finde ich faszinierend. Ich muss meiner Person treu bleiben, auch wenn ich Hyde spiele, aber ins absolute Extrem gehen. Ich mutiere nicht zum Monster, sondern bleibe ich selbst. Ich bleibe Jekyll, benutze aber die Mittel von Hyde. Und der ist ja durchaus auch charmant, sonst würde Lucy ihm wohl nicht verfallen. Seine Macht hat ja auch in gewisser Weise Ausstrahlung. Das Problem ist nur, dass Jekyll anfängt, schizophren zu denken. Was er losgetreten hat, kriegt er nicht mehr unter Kontrolle, wie eine Sucht, die er nicht mehr los wird. Und die Sucht gewinnt ja meistens. Es ist immer leichter sich ihr hinzugeben, als dagegen anzukämpfen. Jekyll verliert sozusagen seine Mitte. Er kommt mit den Extremen seiner Persönlichkeit nicht mehr klar – und es kommt zur Spaltung.

Töne sind ehrlich

MC24: Sie haben einmal die Stimme als Instrument der Seele bezeichnet. Müssen wir uns vor dem Teil fürchten, den Sie in Hyde legen werden?

JA: Ja. (Pause. Dann ein Lachen.) Nein ernsthaft: Gefühle werden tatsächlich über die Stimme vermittelt. Eine Emotion im positivsten Sinne drückt man meistens durch Jubilieren aus. Dies wiederum kann man am besten durch Singen äußern. Ohne Konsonanten und Gedanken, einfach nur Töne. Die sind ehrlich. Durch die Atmung – die Säule, die man im Körper in sich trägt – ist man sich beim Singen selbst sehr nah. Weil es der direkteste Weg ist. Das gilt natürlich nicht nur für Freude, sondern auch für Gefühle wie Wut oder Trauer. Diese Ehrlichkeit kann einen emotional völlig umhauen, weil sie einen natürlich auch mit negativen und schmerzlichen Erinnerungen ganz unmittelbar konfrontiert. Jeder hat irgendwo einen Schatten in seiner Vergangenheit, hat böse Erfahrungen gemacht oder einfach nur schlechte Eigenschaften. Und dann wirklich die Courage zu haben zu sagen, ich liebe auch das, es ist ein Teil von mir, es gehört zu mir… das ist viel anstrengender und erfordert viel mehr Mut, als es einfach von sich wegzuschieben. Es fällt sicherlich schwer, das Extrem zu bewältigen. Böse zu spielen, ist leicht. Böse zu sein, das ist schwer. Aber genau das ist das Ziel des Schauspielers.

MC24: Wie kann man das darstellerisch auf der Bühne umsetzen?

JA: Du musst einfach sein. Auf der Bühne authentisch zu sein, ist wahrhaftig zu sein in diesem Moment. Und da musst Du alle Möglichkeiten, alle Werkzeuge, alle Tools einbringen, die dir zur Verfügung stehen.

MC24: Das hört sich schwierig an. Bisher haben Sie eher ‚gute Charaktere’ dargestellt. Auch das Biest war ja nicht im klassischen Sinn ‚böse’, sondern hat nur böse reagiert, weil es zutiefst verzweifelt und gequält war.

JA: Richtig. Aber gerade als ‚Biest’ war diese schreckliche Maske, unter der ich mich fast zu Tode geschwitzt habe, extrem befreiend. Es war alles egal. Ich war – das ist jetzt leider sehr visuell – ich war so entstellt, weder ich selbst noch die anderen konnten mich sehen. Unter dieser Fratze war ich der freieste Schauspieler der Welt. In diesem Fall hat mir diese Maske total geholfen, frei zu sein.

MC24: Hyde hat keine Maske…

Foto: privat

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JA: Da ist die Herausforderung um so größer. Da muss ich mich wirklich in dunklen Kammern verstecken. Ich muss schon als Dr. Jekyll abgründig böse sein. Alles, die ganze Boshaftigkeit, die in mir ist, diese Schwärze, dieser Hass und diese Wut, diese Mordlust und diese Lust am Bösen, die muss ich schon als Jekyll haben. Aber der Jekyll ist so kontrolliert, weil er mit seinem Aristokratenhintern alles unter Kontrolle hat. Im Prinzip ist Jekyll ein Schauspieler. Er steht da, macht sein Ding…aber eigentlich gärt da schon dieser Keim in ihm. Er spürt es schon… irgendwo…da ist etwas in ihm. Deshalb denkt er ja, dass es gut und böse geben muss. Er trägt es ja in sich. Es ist etwas in ihm…

MC24: … das ihn erschreckt und das er am liebsten loswerden möchte?

JA: Genau. Und er ist der Meinung, dass er es trennen kann. Aber indem er sich quasi eine Droge verabreicht, die ihn willenlos oder besser – willenfrei – macht, steigert er diese Gegensätzlichkeit ins Unermessliche. Er will den Extremen einen Riegel vorschieben – und öffnet dadurch die Tür erst so richtig. Eskalation statt Kontrolle.

MC24: Das erfordert sicher eine gewisse Grundstimmung?

JA: Ja. Ich schätze, ich werde während der Proben rumschreien wie ein Wahnsinniger. Ich muss eine Wut in mir haben, die ich kaum kontrollieren kann.

MC24: Und hinterher? Nach dem Stück – wie kommt man wieder runter?

JA: Das wird schwer. Man darf die Rolle nicht mit nach Hause nehmen. Gerade diese Rolle nicht. Die musst du wirklich abatmen. Die musst Du ausatmen. Die musst du loslassen. Das ist natürlich auch eine sehr physische Sache.

MC24: Könnte es passieren, dass Sie zuviel von sich selbst in diese Rolle legen?

JA: Nein. Nein, das glaube ich nicht. Dafür ist es ja Schau-Spiel. Man nutzt die darstellerischen Mittel, um eine Rolle so authentisch wie möglich zu spielen. Teils muss man dabei schon auch die eigenen Tiefen ausloten. Das Können des Schauspielers liegt auch darin, ins Extrem zu gehen. Und wenn man als Schauspieler ins Extrem gehen kann, dann ist man auch in der Lage, als Mensch seine eigene Person wieder zurück zu holen. Ich wage zu bezweifeln, dass ich den Schritt in den Wahnsinn mache, wenn ich jetzt als Schauspieler einen Wahnsinnigen verkörpere. Aber es ist sicherlich eine Heraus-
forderung zu sehen, wo meine Grenzen sind, wo ich einfach ‚stop’ sage. Ich muss mir sicher auch ein paar Übungen einfallen lassen, mit Hilfe derer die ich da rein und auch wieder raus komme. Ich muss mich selbst öffnen für diese Art Gefühl. Ich muss zusehen, dass ich dieses Gefühl in mir entstehen lasse, es aber kontrolliere. Denn Kontrolle ist in dem Fall das Wichtigste.

MC24: Wobei Edward Hyde seine Gefühle ja nicht mehr kontrolliert…

JA: Klar, der Hyde ist nicht kontrolliert, der darf es ja loslassen. Aber als Schauspieler auf einer Bühne…

MC24: …lässt man es kontrolliert los?

JA: In homöopathischen Dosen, sozusagen.

Visionen und Entscheidungen

MC24: Kommen wir auf die Inszenierung zu sprechen. Für Sie ist die Rolle ganz neu, während Frank Alva Buecheler das Stück wie kaum ein zweiter kennt, es mehrfach produziert hat und nun erstmals selbst Regie führt. Ist das für Sie schwierig, weil er vielleicht aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen ganz bestimmte Vorstellungen hat?

JA: Ich denke, er ist ein paar Schritte voraus und die muss ich mir natürlich erst erarbeiten. Er hat alle Vorstellungen, alle Versionen gesehen. Er kennt alle. Er weiß, was ihm gefällt und er weiß, was ihm nicht gefällt. Er weiß, was er jetzt anders machen möchte. Die früheren Inszenierungen passen vielleicht einfach nicht mehr in die heutige Zeit. Vieles hat sich verändert. Die Art und Weise, an die Thematik heranzugehen, ist sicher heute eine andere. Gerade, weil Frank Alva Buecheler dieses Stück so gut kennt, wird die Interpretation jetzt sicher eine andere sein. Wir möchten aber auf jeden Fall, dass die Interpretation transparent ist für den Zuschauer. Der möchte ja verstehen, was da stattfindet. Wir wollen keine abstrakte Geschichte entstehen lassen, zumal der Inhalt an sich ja schon heftig genug ist.

MC24: Schauen Sie sich die früheren Inszenierungen an?

JA: Nein. Ich habe mir die Filme angeschaut. Alle. Vom Stummfilm bis zur neuesten Version. Aber die Vorstellungen möchte ich nicht sehen. Damit würde ich mir keinen Gefallen tun. Ich weiß, was der Regisseur vorhat und ich möchte mich im Dialog da mit reinarbeiten. Er wird mir erklären, was er möchte. Wenn er mir erklären kann, was er möchte, kann ich das auch umsetzen.

MC24: Wie wichtig ist die Harmonie zwischen Hauptdarsteller und Regisseur?

JA: Mir ist das extrem wichtig. Es gibt nichts Schöneres, als mit einem Regisseur zu arbeiten, der eine Vision hat und diese Vision mit dir teilt. Indem er sich dir so öffnet, bist Du nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Mensch total offen. Weil du für das, was er dir vorträgt, Verständnis entwickelst. Vieles erarbeitet man sich dann im Dialog. Der Regisseur ist dadurch in der Lage, dich in geöffnetestem Zustand zu betrachten. Er sieht, wie du arbeitest und er sieht, in welche Richtung du Fortschritte machst. Und daraufhin fällt er seine Entscheidung möglicherweise anders. Aber dann wird er es dir noch besser erklären, weil er dich ja versteht. Das ist ganz, ganz wichtig.

MC24: Ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis also?

Foto: privat

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JA: Exakt. Ich möchte so viel Talent wie möglich zeigen. Ich möchte gut arbeiten. Das kann ich nur, indem ich mich auch gut fühle. Schauspiel heißt ja auch, Entscheidungen zu treffen, genau wie im richtigen Leben. Das ist sogar extrem wichtig. Aber ich möchte meine Entscheidung jetzt noch nicht treffen. Ich möchte sie treffen, wenn ich mit dem Regisseur spreche. Denn er sagt ‚ja, das ist richtig’ oder ‚nee, das hier passt nicht’. Dann verstehe ich das und dann kann ich meine Entscheidung, meinen Tunnel, etwas kleiner machen. Bis ich nachher genau in dem Rahmen bin, den ich brauche. Und dann gibst du Vollgas. Und dann bist du auf einmal in der Lage, in diesem Rahmen, den man sich zusammen erarbeitet hat, wirklich so authentisch wie möglich zu sein. Dieser Rahmen gibt dir Freiheit – weil er seine Grenzen hat.

MC24: Es gibt Richtlinien und innerhalb derer die Freiheit der Darstellung?

JA: So kann man es ausdrücken. Und dann bist du wirklich in der Lage, 100 % zu leisten. Weil jede Ecke, an die man stoßen kann, schon gesichert ist. Das macht frei. Man entspannt sich. Die Proben sind da, um die größten, dicksten und hässlichsten Fehler zu machen. Damit man sagen kann ‚hey, das war jetzt ein bisschen viel, mach mal weniger’. Oder umgekehrt.

Der ‚grüne Hügel‘ der Musicalwelt

MC24: Sie spielten die Hauptrollen in der Deutschlandpremiere von ‚Mar i Cel‘ und in der Weltpremiere von ‚Ludwig²‘. Von ‚Jekyll & Hyde‘ dagegen gab es hierzulande schon unzählige Inszenierungen – viele andere Darsteller haben diese Rolle bereits verkörpert. Ist dies eine besondere Herausforderung für Sie?

JA: Ja, klar, es ist ja eine ganz andere Situation. Jetzt kann das Publikum natürlich vergleichen. Ich selbst habe diese Möglichkeit nicht, weil ich die anderen Aufführungen ja nicht gesehen habe. Aber ich muss ehrlich zugeben, dass ich mich davon auch frei machen möchte. Ich muss meine eigene Entscheidung treffen. Es ist wichtig, dass ich 100%ig hinter meiner Art stehe, diese Rolle zu interpretieren. Das ist das Wichtigste. Wer sich in die Mitte stellt, kann natürlich kritisiert werden. Klar kann man es immer besser machen. Aber wenn ich weiß, dass ich unter den gegebenen Umständen meine bestmögliche Leistung zeigen konnte, dann ist es für mich in Ordnung. Dann tut Kritik auch nicht weh, sondern kann im Gegenteil sogar Verbesserungen oder neue Ansätze bringen. Dann macht es mir auch nichts aus, wenn jemand sagt, ich hätte ihm jetzt nicht so gut gefallen. Die Großen der Musicalszene haben alle schon den Jekyll gemacht. Und das können auch nur die Großen, diese Rolle singen. Umso mehr ist es für mich Ehre und Ansporn zugleich, dass ich jetzt bei den Bad Hersfelder Festspielen auf der Bühne stehen werde. Außerdem ist Bad Hersfeld ist für mich so bisschen der ‚grüne Hügel’ der Musicalwelt. Für mich ist Bad Hersfeld im Musicalbereich das, was Bayreuth für die Oper ist: Die Stätte, an der man sich zum Ritter schlagen lassen kann oder an der einem der Kopf abgehauen wird…

MC24: Bad Hersfeld als Freilichtbühne hat für Sie diesen Stellenwert?

JA: Absolut. Bad Hersfeld ist einfach renommiert. Dann hat Hersfeld eine Historie. Die Qualität war immer gut, immer die beste. Ich möchte an diese Qualität anknüpfen, den Ehrgeiz habe ich. Ich möchte es natürlich immer besser machen, das ist die Motivation des Künstlers. Man möchte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Bad Hersfelder Produktionen waren immer etwas Besonderes, keine 08/15-Stücke. Und jetzt diese Mörderpartie, die sowohl an darstellerische als auch an gesangliche Fähigkeiten den höchsten Anspruch stellt. Ich möchte alles richtig machen, mich richtig gut vorbereiten. Bad Hersfeld hat für mich außerdem auch diesen Festspielkult, einfach eine ganz einmalige Atmosphäre. Wie gesagt – für mich treffen zwei Dinge zusammen: einmal das Stück, das ich immer liebend gerne machen wollte. Und dann wollte ich immer in Bad Hersfeld spielen. Jetzt bin ich natürlich überglücklich und motiviert bis in die Fingerspitzen.

MC24: Muss man auf einer Freilichtbühne beim Singen etwas anders machen, als im geschlossenen Raum?

JA: Hm. Nicht von der Technik her, aber man muss sich noch mehr befreien – also völlig befreit und entspannt singen. Musical-Stilrichtung draußen zu singen, ist schon hart. Wichtig ist natürlich auch das perfekte Zusammenspiel mit der Technik. Die Bühne in der Stiftsruine ist wirklich riesig. Am besten wäre, man könnte mit In-Ear-Monitoring arbeiten, da hat man als Sänger einfach den konstantesten Klang, egal, ob man gerade vorne am Bühnenrand oder ganz hinten steht. Man kann sich völlig frei bewegen und hört sich selbst und die Musik immer gleich gut. Die Leistung der Tontechniker kann man übrigens gar nicht hoch genug einschätzen. Die sorgen dafür, dass wir auf der Bühne uns richtig anhören. Und die stehen am Ende nicht da und bekommen ihren Applaus. Aber die haben ihn genauso verdient.

MC24: Gibt es beim Schauspielerischen Unterschiede? Muss man vielleicht die Gestik größer anlegen?

JA: Ich bin eher der Meinung, dass weniger mehr ist. Wenn du einen Raum ausfüllen willst, musst du ganz langsame Bewegungen machen. Dann hast du extreme Ausdrucksstärke. Wenn du genau weißt, was du tust, bewegst du nicht nur den Arm. Du bewegst das, was du willst. Du hast einen Motor, eine Motivation. Du zeigst mit deinem ganzen Körper auf diesen Gegenstand. Nur der Arm bewegt sich, aber der ganze Körper meint es. Und schon füllst Du einen ganzen Raum. Jekyll hat eine extreme Präsenz. Und die möchte ich auf gar keinen Fall verhampeln. Ich hasse Hampeln auf der Bühne. Es gibt nichts Schlimmeres. Und ich bin auch noch ein großer Typ, wenn der dann da rumschlakst, nee.

„Diese Rolle bedeutet mir unglaublich viel.“

Foto: privat

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MC24: Sind Ihre Erfahrungen als ‚Tony‘ in der ‚West Side Story‘ auf der Freilichtbühne Coesfeld hilfreich für Sie?

JA: Das ist wirklich ewig her (lacht)… da hatte ich ja noch Eierschalen auf dem Kopf. Aber – ja – schon ein bisschen. Es ist einfach die ganz eigene Atmosphäre beim Open-Air. Ja, es war schon toll. Witzigerweise hab ich damals gar nicht darüber nachgedacht, ob ich die Rolle schon singen kann, obwohl Tony wirklich ziemlich schwer ist.. Es war klasse, die Rolle zu spielen, einfach die Rolle zu sein. Dadurch, dass ich gar nicht groß darüber nachgedacht habe, hab ich nicht ans Singen gedacht, sondern an das, was ich fühle. Und bei der Hammerpartie als Jekyll ist das natürlich erst recht wichtig. Deshalb bereite ich mich ja schon seit langem intensiv auf die Rolle vor. Ich habe in den letzten Monaten nicht viel anderes gemacht, weil ich mir hauptsächlich für dieses Stück Zeit nehmen wollte. Es bedeutet mir viel. Es sind nur vier Monate – die reine Spielzeit sogar nur ein paar Wochen – aber die bedeuten mir unglaublich viel. Ich will diese Zeit so optimal wie möglich erleben und erarbeiten. Ich nehme das auf keinen Fall auf die leichte Schulter. Ich hab den höchsten Respekt vor dieser Rolle, vor dieser Herausforderung. Mehr als vor allem anderen, was ich bisher gemacht habe. Deswegen möchte ich so viel wie möglich vorarbeiten…

MC24: Damit Sie gleich von Anfang an ein gutes Gefühl haben?

JA: Ja. Ich möchte das ganze Stück vorwärts und rückwärts intus haben. Ich bin fast die ganze Zeit auf der Bühne. Wenn ich richtig singe, wenn alles passt, dann werde ich auch nicht müde. Aber ich muss dafür sorgen, dass dies so ist. Und es macht mir echt Spaß, neues Potential in mir zu entdecken. Es gibt Dinge, die ich momentan mit meinem Gesangscoach nochmals ganz neu aufarbeite. Wie bei einer Geige, deren Steg nicht ganz perfekt sitzt: Du verrückst ihn minimal und schon hört es sich viel besser an. So musst Du auch an deinem eigenen Instrument, deiner Stimme, arbeiten. Es ist klar, du machst nicht immer alles richtig. Manchmal spielt die Psyche dir einen Streich. Du fühlst dich schlecht, bist traurig oder wütend. Es schnürt dir die Kehle zu, du hast einen Frosch im Hals und das Singen fällt plötzlich schwer. Dass man immer physisch präsent bleibt, ist viel Arbeit. Gesang bedeutet ja auch loslassen. Den komplexen Ablauf, den muss man erlernen, erlernen und nochmals erlernen. Aber irgendwann kommt der Moment, an dem man einfach singt und an nichts mehr denkt. Außer an das, was man singen möchte. Singen ist unkompliziert. Es ist ein komplexer Vorgang, aber wenn du es machst, dann ist es die unkomplizierteste Sache der Welt. Es ist ein Gefühl. Genau wie im Leben musst du auch beim Singen deine Identität finden. Und ständig an dir arbeiten. Denn das ist dein Leben. Das ist dein ganzes Leben.

MC24: Herr Ammann, wir danken Ihnen für dieses offene Gespräch und wünschen weiterhin eine erfolgreiche Probenzeit. Und natürlich heute schon toi toi toi für die Premiere.

Das Interview führten Sylke Wohlschiess und Barbara Kern.