
Heribert Germeshausen
Foto: Björn Hickmann
blickpunkt musical: Das Theater Dortmund zeichnet sich schon seit sehr vielen Jahren mit aufwendigen und hochwertigen Musicalproduktionen aus. In der kommenden Saison haben Sie etwas ganz besonderes auf dem Programm, was die Musicalfans mit den Opernliebhabern verbinden könnte – Sie eröffnen die Saison mit »La Bohème«, kurz darauf wird das darauf basierende »Rent« Premiere erleben, an zwei Tagen können die Zuschauer tatsächlich in einer Doppelshow die verschiedenen Versionen des Stoffes erleben. Können Sie uns erzählen, wie es zu der Idee dazu kam?
Heribert Germeshausen: Das war ein Prozess. Ich schätze Gil Mehmert auch aufgrund seiner besonderen musikalischen Sensibilität sehr. Nur wenigen Opernregisseuren gelingt es so wie ihm, etwa Harmoniewechsel auch theatralisch visuell erfahrbar zu machen, was – je nach Stück – inszenatorisch eine echte Bereicherung sein kann. Seine Inszenierung von »Jekyll & Hyde« bei uns habe ich mir noch mehrere Male nach der Premiere angesehen und während einer dieser Repertoirevorstellungen dachte ich plötzlich, eine solche Verbindung von großer musikalischer Sensibilität und handwerklicher Präzision wäre eigentlich die ideale Regiehandschrift für unsere Neuinszenierung von »La Bohème«. Klar war auch, dass er in dieser Spielzeit 2023/24 trotzdem ein Musical inszenieren würde, also gleich mit zwei Inszenierungen präsent sein wird. Als Musical war damals im Herbst 2019 für 2023/24 »Sweeney Todd« geplant. Die Auswirkungen von Corona haben unsere langfristige Musical-Planung dann ohnehin etwas durcheinandergewirbelt, wir mussten einiges schieben, »Chicago« ist sogar entfallen. Plötzlich hatten wir eine freie Position. Gils Idee war es dann, diese Position mit »Rent« zu füllen und diesen thematischen Bezug herzustellen. Mir war es dann wichtig, beide Produktionen als Paket auch an einem Tag zu präsentieren, wobei Gil dann wiederum meinte, wenn, dann auch in der chronologisch richtigen Reihenfolge, nachmittags die Oper und abends dann das auf der Oper basierende Musical. Ich hatte das anfangs nämlich in umgekehrter Reihenfolge vorgesehen.
blimu: In Deutschland wird nach wie vor zwischen ernster Musik und dem Unterhaltungsgenre unterschieden – viele Opernfreunde nehmen Musical nicht ernst, andersherum würden viele, die Musical lieben, nicht in die Oper gehen. Welche Resonanz spüren Sie hier bei Ihrem Publikum, wird es angenommen, sich beide Sachen anzuschauen?
HG: Institutionell gesehen sind wir ja ein großes Stadttheater mit entsprechendem Abonnementssystem. Wir führen jede Spielzeit 7 Neuproduktionen zur Premiere, das sind laut unserem Businessmodell fünf Opern, eine Operette und ein Musical. Dazu kommen noch eine oder zwei Opern-Wiederaufnahmen. Unsere meisten Abonnements sind 5er Abos. Unser Stammpublikum sieht somit definitiv einen genreübergreifenden Mix. Natürlich gibt es Hardcore Musicalfans, die nur einmal im Jahr ins Musical gehen, so wie es auch Hardcore Wagnerianer gibt, die nur in Wagneropern gehen. Aber die meisten Zuhörer sind offen. Wobei die Vorurteile seitens reiner Musicalfans meiner Einschätzung nach weiter verbreitet sind. Ich beobachte – auch über unser We DO Opera! Projekt, in dessen Tradition das Opern/Musicaldoppel »La Bohème« / »Rent« sehr gut passt – eine wachsende Offenheit. Gleichzeitig hoffe ich durchaus, über dieses Projekt Vorurteile bei Musicalfans abzubauen und über »La Bohème« auch für das Genre Oper an sich zu begeistern. Persönlich halte ich diese Trennung für ziemlich überholt und hoffe, dass sich diese Meinung weiter durchsetzt.
blimu: Sie haben mit Gil Mehmert einen Garanten im deutschsprachigen Musicalraum als Regisseur verpflichtet, durch seine Opernerfahrung inszeniert er ebenfalls »La Bohéme«. War es für Sie essentiell, jemanden zu finden, der sich beide Stücke aneignen und zur Premiere führen kann, bzw. anders gefragt, wo liegt für Sie der große Vorteil, wenn ein Regisseur beides gleichzeitig inszeniert?
HG: Das Doppelprojekt macht tatsächlich nur als konzeptionelles Doppel in der Hand eines Regisseurs Sinn. Gil Mehmert erwähnte bei den Proben ein schönes Beispiel. Wenn er in einer Theaterwohnung in einem alten Gebäude wohnt, fragt er sich immer: Welche Schicksale haben in diesen Wänden in den letzten 150 Jahren stattgefunden. In dem 1870ern, 1930ern etc.
Das Bühnenbild hat zwar für »La Bohème« einige Paris- und bei »Rent« einige New York-Zitate, aber es sind klar erkennbar identische architektonische Strukturen. Sehr bildmächtige übrigens! Dadurch, dass er zweimal dieselbe Geschichte erzählt, kann er – ohne traditionell zu sein – »La Bohème« in den 1830 Jahren (oder von den Kostümen her in den 1890ern) spielen lassen, weil es noch eine Zweitinszenierung in der quasi Gegenwart gibt, und einiges subtil andeuten. In »La Bohème« gibt es bei den vier Bohémiens zwei – Rodolfo und Marcello – die mit Mimi und Musette Freundinnen haben, und zwei – Schaunard und Colline – die keine Freundin haben, aber immer mitfeiern. Schaunard und Colline, so Gil, könnten durchaus schwul sein, sind möglicherweise sogar ein Paar, wie sie es in »Rent« ja sind. Aber in den 1830ern war es nicht üblich, sich zu outen, die Neigung wurde sublimiert oder heimlich gelebt. Es gibt einige sehr schöne subtile Details gerade im zweiten Akt, und das geht so nur bei einem konzeptionellen Gesamtwurf. Und dies braucht einen Regisseur, der beides kann. Mir fällt tatsächlich außer Gil Mehmert nur ein weiterer Regisseur ein, der mit beiden Genres so vertraut ist, dass ich ihn für ein solches Doppel engagieren würde, der noch ziemlich junge Martin G. Berger, der als Opernregisseur bereits eine große Karriere macht, aber eigentlich im Musical begonnen hat.
blimu: Wenn Sie jemanden von außen von dem Konzept, sich beide Versionen anzuschauen, überzeugen müssten, dann würden Sie dies mit welchen Worten tun?
HG: Es ist in der Musiktheatergeschichte ziemlich einmalig, dass ein Musical-Welterfolg auf einem Opern-Welterfolg basiert. Und dass es sich bei Musicalhandlung dabei – wie es im Opernbusiness sonst über die Regietheaterhandschrift geschieht – um eine Aktualisierung des Opernhandlung hinsichtlich der Verankerung in der gesellschaftlichen Realität von heute handelt. Die menschlichen Emotionen – Liebe, Eifersucht, Streben nach dem erfüllten glücklichen Augenblick – im Paris der 1830er und New York der 1980er sind identisch, so unterschiedlich die Kostüme und gesellschaftlichen Normen sind. Das innerhalb von kompakten 8 Stunden zwischen 14:30 Uhr und 22:30 Uhr auf der Bühne zu erleben ist einmalig und in diesem Doppelprojekt tatsächlich nur an der Oper Dortmund möglich.
blimu: Wie schon erwähnt, blickt das Theater Dortmund auf sehr viele Musicalinszenierungen zurück, die große Beachtung in der Musicalwelt fanden. Wenn man auf Ihre Homepage geht, findet man allerdings Musical gerade einmal unter Oper eingeordnet. Wie würden Sie die Gewichtung an Ihrem Haus sehen, häufig gelten ja die Musicals als das, was das Geld einspielt, während Schauspiel und Oper die »intellektuellen« Wünsche der Zuschauer erfüllen sollen.
HG: Bei aller Sympathie muss ich Sie an dieser Stelle höflich darauf hinweisen, dass für mich hier einige Grundannahmen der Fragestellung nicht stimmen. Musical wird bei uns unter Oper eingeordnet, weil das Theater Dortmund die Dachmarke für sechs selbständig arbeitende Sparten ist. Die Sparte Oper produziert – wie oben bereits ausgeführt – pro Spielzeit eine Musicalpremiere neben einer Operettenpremiere und fünf Opernpremieren und zwei Opernwiederaufnahmen, dazu kommen im Rahmen der Jungen Oper noch drei weitere Opernpremieren und vier Opernwiederaufnahmen. Unter den ungefähr 80 Opernhäusern im deutschsprachigen Raum gibt es meines Wissens nur ein einziges, das über eine eigene Musicaluntersparte verfügt: das Landestheater Linz. Die Operette wird ja auch nicht separat ausgewiesen. Wir gliedern institutionell nach dem Veranstalter »Oper Dortmund« und nicht nach Genrebezeichnung. Ich kann übrigens auch die Einordnung der Oper als »intellektuell« in keiner Weise nachvollziehen. »Intellektuell« sind allenfalls einige Auswüchse zeitgenössischer Opern. Aber die Opern, die das Repertoire prägen, von Mozart über Rossini, Donizetti, Wagner zu Strauss und Puccini zielen direkt auf die Emotionen und sind daher auch noch nach zum Teil über 200 Jahren absolute Welterfolge. Und das gilt auch für die wenigen erfolgreichen Uraufführungen der jüngeren Vergangenheit, die tatsächlich mehrfach nachgespielt werden. Und wenn ein solcher »alter Klassiker« wie ein Musical »klassisch« und dabei unverstaubt inszeniert ist, ist er auch kommerziell mindestens ebenso erfolgreich. Unsere Neuinszenierung von »Die Zauberflöte« aus der Spielzeit 2022/23 verzeichnet beispielsweise wie ein Musical 25 Vorstellungen und war fast stets ausverkauft. Unterm Strich ist das für uns sogar deutlich wirtschaftlicher als ein Musical, weil wir mit dem hauseigenen Ensemble arbeiten können. Musical ist letztlich ein vollständiges eigenes Genre. Wenn man es gut produzieren will, wie es mein Anspruch ist, dann muss man ausschließlich mit Gästen arbeiten. Bei großbesetzen Stücken wie »West Side Story« – erst recht, wenn man das hauseigene Ballett nicht für Musical einsetzen kann – summieren sich geradezu horrende Gastkosten, zu denen dann noch hohe Kosten für Ton und Tantiemen hinzukommen, während Mozart gemeinfrei ist. Ich würde den Unterschied dagegen zwischen Musiktheater (Oper, Operette, Musical, auch Ballett) einerseits und dem Sprechtheater andererseits ziehen.
blimu: »Das Kapital – Das Musical« ist eine deutschsprachige Erstaufführung, die an Ihrem Haus Premiere feiern wird. Obwohl Musical im Namen ist, wird es als Schauspiel gelistet – können Sie uns mehr verraten zu dem Stück und welche Zielgruppe hiermit angesprochen wird?
HG: »Das Kapital« ist eine Produktion des Schauspiel Dortmunds. Wir stehen beide unter der Dachmarke Theater Dortmund, teilen uns die Werkstätten und haben dieselbe Verwaltung, denselben Kartenvertrieb. Künstlerisch sind wir jedoch mit unterschiedlichen Intendanzen, Dramaturgen etc. komplett unabhängig. Ich kann zu dieser Produktion deswegen gar nichts sagen.
blimu: Wonach treffen Sie als Intendant Entscheidungen pro oder contra verschiedener Stücke, die auf den Spielplan kommen? Spielen da auch persönliche Vorlieben eine Rolle oder orientieren Sie sich immer an dem Publikum, welches das Haus besucht? (Wenn letzteres, wie finden Sie die Wünsche des Publikums heraus, wie eng ist der Kontakt damit, werden tatsächlich Erhebungen gemacht oder orientieren Sie sich an den Kartenverkäufen?)
HG: Eine der wichtigsten Aufgaben eines Intendanten ist, sich tief in die DNA des von ihm geleiteten Theaters und seine Geschichte einzugraben, ein umfassendes Verständnis seines aktuellen und potenziellen Publikums zu erlangen und mit Phantasie darauf zu reagieren. Wie kann ich für mein konkretes Publikum hier in Dortmund und Umgebung spannendes Musiktheater machen, die künstlerischen Stärken von Solisten, Orchester und Chor zum Klingen bringen und weiterentwickeln und dabei auch die Hörerfahrungen und Sehgewohnheiten des Publikums erweitern? Idealerweise auch noch überregionale Wahrnehmung erzeugen? Es geht darum, einen Spielplan als Gesamtkunstwerk aufzustellen, neue Kombinationen von Werken auf den Spielplan zu bringen, vergessene Werke wiederzuentdecken, Uraufführungen in Auftrag zu geben. Dazu gehören große Fachkenntnisse – im Sinne von Repertoirekenntnissen und einer guten Intuition für die Entdeckung und Förderung junger Talente bei Sängern, Regisseuren, Komponisten – ferner Einfühlungsvermögen, Phantasie und auch Mut. Im Musiktheater käme ein furchtbar langweiliger Spielplan heraus, wenn ich mich im Sinne einer Meinungsumfrage an Publikumswünschen oder Kartenverkäufen orientieren würde. Wobei die Kartenverkäufe am Ende des Tages für einen ausgeglichen Etat natürlich zentral sind. Aber eine reine oder primäre Orientierung an Kartenverkaufszahlen und Publikumswünschen würde das Ende des Musiktheaters als lebendige Kunstform bedeuten. Dann würde man auch keine künstlerischen Leiter/ Intendanten an der Spitze der Institutionen mehr benötigen, sondern könnten ganz einfach die Vertriebsleitung, das Controlling und das Marketing mit der Theaterleitung beauftragen. Kartenverkäufe bilden ausschließlich die Vergangenheit ab und können Innovationen nicht erfassen. Und Publikumsumfragen führen erfahrungsgemäß zum ohnehin allseits bekannten Kanon der beliebtesten Werke der letzten dreihundert Jahre. Die Werke des zu Recht bekannten Kanons, den man aufgrund der Qualität der Werke, der Entwicklung des Ensembles und der mit ihnen verbundenen Einnahmen einfach braucht, spannend mit Neuem, Unbekannten in Beziehung zu setzen ist ein Gesamtkunstwerk, in das zahlreiche Faktoren einfließen. Wie bei jedem künstlerischen Prozess fließen da auch persönliche Überzeugungen ein, die man vielleicht auch als Vorlieben bezeichnen kann, das ist aber nicht dem Sinne nach maßgeblich, dass ich sage, mir gefällt das, und deswegen machen wir das.
blimu: Als Stadttheater müssen Sie Bildungsaufträge erfüllen, aber gleichzeitig dennoch auch die Wirtschaftlichkeit im Auge behalten. Gäbe es für Sie persönlich noch Wunschinszenierungen, die Sie dem Publikum gern präsentieren würden, würde Geld überhaupt keine Rolle spielen?
HG: In gewisser Weise ist es die Aufgabe des Intendanten, täglich die Quadratur des Kreises zu realisieren. Würde Geld keine Rolle spielen, würde ich sicher noch ein paar unbekannte oder sperrige Werke mehr auf den Spielplan setzten. Persönlich hätte ich beispielsweise 2018/2019 eine Verbindung von Glass‘ »Echnatnon« mit Schönbergs »Moses und Aron« spannend gefunden. Das hätte in Dortmund aber nicht genügend Menschen außer mir persönlich interessiert. Und da schien es mir für alle, das Publikum und die Institution Oper Dortmund, wichtiger, die deutsche Erstaufführung von Francesconis »Quartett« herauszubringen. Im Großen und Ganzen bin ich schon sehr glücklich mit dem, was ich hier in Dortmund realisieren kann.
blimu: Auf was sind Sie persönlich ganz besonders stolz aus den vielen Jahren Ihres Wirkens?
HG: Die Auszeichnung mit dem »Oper! Award 2023« als »Bestes Opernhaus des Jahres« ist schon etwas ganz Besonderes. Das ist eine der beiden zentralen, europaweiten Umfragen für Opernhäuser. Auch weil damit alle Aspekte meines Wirkens gewürdigt wurden: Das Konzept von We DO Opera!, mit dem wir versuchen, die Institution Oper für ein neues Publikum zu öffnen und dass wir die Dortmunder Bürger:innen Oper gegründet haben ebenso wie unser Bemühen um die Wiederentdeckung unbekannter Werke im Rahmen des »Wagner Kosmos« oder die herausragende Realisierung von Werken des klassischen Kanons mit einem leistungsstarken Ensemble und tollen Gästen. In der anderen Umfrage, jener der »Opernwelt«, hatten wir 2022 zudem die mit Abstand zweitmeisten Nennungen als »Opernhaus des Jahres«. Das hat in dieser Kombination außer der Oper Dortmund bisher auch kein anderes Opernhaus geschafft. Dass das Land NRW unsere Mittel für das neu gegründete Ensemble der Jungen Oper verstetigt hat, gehört letztlich auch dazu.
blimu: Was macht für Sie ganz persönlich die Magie eines Theaterhauses aus?
HG: Das Live-Erlebnis. Die leibliche Kopräsenz von Zuschauern und Künstlern während der Vorstellung.
blimu: Wir danken Ihnen sehr herzlich für dieses Interview und wünschen Ihnen für die gerade beginnende Saison alles erdenklich Gute!
HG: Ich danke Ihnen!