Intendant Sebastian Ritschel im Interview:
»Für mich ist Musical keine Gelddruckmaschine«

Sebastian Ritschel
Foto: Tom Neumeier Leather

blickpunkt musical: Lieber Herr Ritschel, Sie sind noch recht frisch als Intendant am Theater Regensburg, es ist Ihre erste Spielzeit und auf dem Plan stehen zwei deutschsprachige Erstaufführungen: zum einen die Stephen-Sondheim-Revue »Putting It Together« und zum anderen »Parade« von Jason Robert Brown. Für jemanden, der Musical sehr mag, ist das fantastisch – aber wenn man Menschen ins Theater bekommen möchte, wäre das normalerweise vermutlich bei den wenigsten Intendanten die erste Wahl?

Sebastian Ritschel: Ich bin – wenn Sie so wollen – Überzeugungstäter. Für mich ist Musical keine Gelddruckmaschine, wie das häufig der Fall ist, sondern ich bin der festen Überzeugung, dass es nur gutes oder schlechtes Musiktheater gibt. Und das gibt es in jedem Genre – Oper, Operette und auch Musical. Wenn man sich unseren Spielplan anschaut und auch meine Biografie, dann sieht man, dass ich seit vielen Jahren so denke. »Parade« war ursprünglich für die Landesbühnen Sachsen gedacht und die Übersetzung von Wolfgang Adenberg ist damals in meinem Auftrag entstanden. Dann hat die Pandemie die Inszenierung und Aufführung verhindert. Daher bin ich sehr, sehr dankbar, dass wir das Stück hierher mitnehmen konnten, und ich glaube, dass wir hier etwas Sensationelles geschafft haben. Ich bin überzeugt, dass »Parade« ein sehr wichtiges und sehr gutes Stück ist, der Inhalt hat auch heutzutage höchste Priorität: unschuldige Menschen, die auf einmal von einer Masse ausgegrenzt und für schuldig erklärt werden – die Gesellschaft hat sich da leider kaum weiterentwickelt.

blimu: Das Stück erlebte am Broadway gerade wieder ein Revival, es tourte auch, spielte in London – es gibt also entsprechend verschiedene Fassungen davon. Welche spielen Sie?

SR: In Regensburg hört man die Fassung für das große Orchester mit 40 Musiker/innen – dafür haben wir lange »gekämpft«. Und ich freue mich sehr, dass Stephan Kopf von Musik und Bühne sowie Ronny Scholz und ich als Dreierteam schon fast zwanzig Jahre wunderbar zusammenarbeiten. Das heißt, der Verlag weiß, was er bekommt, wenn wir etwas auf die Bühne bringen, da besteht ein großes Vertrauensverhältnis. Für mich war es wichtig, gerade auch in meiner ersten Spielsaison als Intendant, Stücke zu präsentieren, die a) nicht zum Standardprogramm gehören und b) musikalisch und szenisch den hohen Ansprüchen genügen sollen, die ich als Intendant und die wir als Haus haben. »Putting It Together« von Stephen Sondheim und »Parade« von Jason Robert Brown zeigen eine Bandbreite auf. Beide Stücke auf großer Bühne: einmal eine sehr klare Erzählung von Beziehungen, ein Stück, das man im Heute und Jetzt spielen kann und sollte, mit sensationeller Übersetzung – und für »Parade« eine Inszenierung von Simon Eichenberger, die quasi in der Originalzeit und trotzdem nicht mit Abstand, sondern sehr nah an den Leuten spielt. Es ist eine glückliche Fügung, in Regensburg mit dem Cantemus Chor einen Partner zu haben, der unendlich viel Leidenschaft mitbringt und dabei auch szenische Erfahrung hat und unser Ensemble wirkungsvoll ergänzt.

blimu: »Putting It Together« haben Sie inszeniert, Bühnenbild, Regie – alles. Bei »Parade« haben Sie Simon Eichenberger als Regisseur geholt …

Neue Ensemblemitglieder Musiktheater. Foto: Tom Neumeier Leather

SR: Man kann ja nicht alles machen, obwohl mein Herz wirklich etwas geblutet hat. Doch Simon Eichenberger und ich kennen uns schon lange aus der gemeinsamen Arbeit und ich wusste, dass es bei ihm eine hohe szenische und choreographische Qualität und ein glaubhaftes Verständnis für das Genre gibt. Wir unterscheiden uns in der Professionalität der Regiesprache nicht, aber in der Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen. Ich war sehr glücklich, als ich im ersten Durchlauf gesehen habe, wie unser Team im Haus, nicht nur die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, sondern alle Beteiligten am Haus, dabei mitgewirkt haben: Das Orchester, die sensationellen Werkstätten, die wir hier in Regensburg haben, Bühne, Deko, Metall, Holz, die wunderbare Kostümabteilung – bei »Parade« sieht man über 350 Kostüme auf der Bühne. Das ist für ein Theater dieser Größenordnung ein riesiger Kraftakt und ich freue mich, dass wir auch so etwas stemmen können. Es ist wunderbar zu erleben, dass alle im Haus überzeugt sind, dass wir da etwas ganz Großartiges auf die Bühne bringen: erstklassige Musik, eine klug erzählte Geschichte.
Wir weisen in unserer Ankündigung des Stückes übrigens auch bewusst daraufhin, dass starke Sprache verwendet wird, das N-Wort wird zweimal im Stück verwandt, weil es genau so auch im Libretto steht. Wir haben bewusst nichts rausgestrichen, aber es natürlich vorher mit den Darstellenden thematisiert. Es gibt vor und nach jeder Vorstellung, nicht nur bei »Parade«, sondern auch bei anderen Musiktheaterstücken, Vor- und Nachgespräche, die wir unserem Publikum anbieten. Der Begriff »Vermittlung« ist so unsexy, aber letzten Endes ist es das Öffnen zum Publikum und Unterbreiten des Angebots – miteinander zu reden und so Barrieren abzubauen, um unsere Arbeit weiterzugeben.
Tatsächlich ist dies auch ein großes Thema meiner Arbeit als Intendant – die Öffnung zur Stadt hin und die permanente Bereitschaft zu Austausch und Gespräch. In diesem Sinn haben wir jetzt zum Beispiel das »Balkonsingen« eingeführt: Einmal im Monat, mittwochs von 21.30 Uhr bis 22 Uhr, treten Künstler/innen aus unserem Haus auf dem Balkon zum Bismarckplatz hin auf. Lieder, Songs und Arien aus unserem Repertoire gibt es dort ebenso zu hören wie neue Stücke, Klassiker oder auch Poppiges. Diese kleinen Häppchen sollen durchaus auf das Hauptmenü Appetit machen. Ich sehe einen Spielplan tatsächlich als großes Menü, es muss nicht immer alles jedem gleich gut schmecken, aber es soll neugierig machen und man soll auch mal etwas Neues probieren. Ich bin tatsächlich sehr stolz darauf, in Regensburg sein zu dürfen, denn wir haben hier ein Publikum, das sehr interessiert ist, das Fragen stellt – auch kritische Fragen.

blimu: Kommunikation ist offenbar ein wichtiger Bestandteil Ihres Schaffens.

SR: Unser Programm ist eher kein Standardprogramm, weder im Musiktheater noch im Schauspiel. Wir haben einen großen Abonnentinnen- und Abonnenten-Stamm und hatten kürzlich unseren ersten »Abo-Dialog«, bei dem wir den kommenden Spielplan vorgestellt haben. Ich finde es gut, wenn jemand sagt, dass der Abend ihn überfordert hat, er aber glücklich im Sinne von: »Wow – diese Kunst war überwältigend!«, nach Hause geht. Ziel ist es – gerade an einem Stadttheater, das mit Förderung hantiert –, etwas anderes zu bieten: bei dem es nicht allein darum geht, ob die »Hütte voll ist« oder nicht – auch wenn es mir im Umkehrschluss natürlich nicht egal ist, wie viele Tickets wir verkaufen. Im Gegenteil, ich will, dass das Haus gut aufgestellt ist. Daher tue ich alles, was wir können, damit das Publikum kommt. Wir haben tatsächlich eine durchschnittliche Auslastung von über 80%. Da kann ich unserem Publikum, aber auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses nur »Danke!« sagen. Natürlich betreiben wir dafür einen großen Kraftaufwand. Wir haben 36 Premieren in dieser Saison an fünf Spielstätten, knapp 350 Menschen, die wir beschäftigen – da ist es sehr wichtig, dass man als »Kapitän« wirklich dahintersteht und auch alle Arbeitsbereiche des Theaters kennt. Ich lade übrigens alle Beschäftigten immer ein, die Vorstellungen zu besuchen – und dies im Rahmen ihrer Arbeitszeit.

blimu: Bei all dem, was Sie jetzt als Anspruch ans Musiktheater genannt haben, muss ich doch fragen, wie es dann zu der Entscheidung kam, nächstes Jahr die »Rocky Horror Show« ins Programm zu nehmen?

SR: Großes Sommertheater, das man wirklich für Menschen öffnet, die weder zu »Putting It Together« noch zu »Parade« kommen würden, gehört genauso dazu. Mit der »Rocky Horror Show« musste ich mich tatsächlich erst etwas anfreunden, habe mich dann aber beim ersten Inszenieren in das Stück verliebt. Man kann mit eigener Ästhetik durch verschiedene Stellschrauben wie Kostümdramaturgie, kleinere Einfälle in der Regie etc. ein Stück so »bearbeiten«, dass ein wirklich spektakuläres Erlebnis für die Zuschauer daraus wird. Wir können zu unserer Freude in der Donauarena spielen, sieben Vorstellungen mit je 3000 Plätzen – ich bin gespannt. Es wird in der kommenden Saison natürlich auch mehrere Uraufführungen geben. So zum Beispiel das Familien-Musical »Die Rückkehr von Peter Pan« von Stephen Keeling und Shaun McKenna. Außerdem werden wir den lang ersehnten Bühnenball wieder ausrichten.

blimu: Sie persönlich sind Mitglied der Deutschen Musical Akademie und daher weiß ich, wie sehr Ihnen die Entwicklung neuer Stücke am Herzen liegt. Ist dieser Ansatz auch Teil Ihrer Intendanz am Theater Regensburg?

SR: Ja, auf jeden Fall. Wir als Theater sind auch Fördermitglied der DMA und ich habe bereits kommuniziert, dass ich gern mal eine »Schreib:maschne« (offene Bühne zum Präsentieren neuer Stücke, gefördert von der DMA, Anmerkung der Redaktion) in Regensburg hätte. Ich bin ebenfalls mit der Kollegin in München und auch mit der MUK in Wien im Gespräch und schaue, was man da perspektivisch aufbauen kann. Ich finde, solche Schritte sind notwendig. Und, wenn ich nach all diesen vielen Jahren von etwas überzeugt bin, dann davon, dass es noch viele gute Stücke gibt und braucht.

blimu: Solche Wege und Entscheidungen gehören mit zu Ihren Aufgaben. Vielleicht wollen Sie unseren Lesern auch erzählen, was genau ein Intendant eines Mehrspartenhauses noch macht und wann genau Sie angefangen haben, für dieses Haus zu arbeiten. Ihr nominell erster Arbeitstag war sicherlich nicht wirklich ihr erster Arbeitstag.

SR: Circa zweieinhalb Jahre vor meinem ersten Arbeitstag wurde ich berufen und damals begann auch meine Arbeit. Ich hatte mich selbstverständlich mit einem Programm beworben, nicht nur mit einer Stückreihenfolge, sondern mit einem Plan zur Ausrichtung des Hauses: Wie möchte man ein Haus führen, welche Relevanz hat das Haus für eine Stadt, wer ist der Mensch, der das Haus führen will? Auf all diese Dinge hin muss man sich den Standort anschauen und ihn künstlerisch »bestellen«. Das Gremium, das mich berufen hat, wusste genau, was es in der ersten Spielzeit bekommt. Man musste die Ensemblestrukturen anschauen und in unserem Fall auch umbauen, weil wir drei neue Musicaldarsteller/innen engagiert haben. Neue Formate müssen entwickelt werden, wie zum Beispiel das »Balkonsingen« oder die After-Show-Party, die ganz wunderbar angenommen werden, und zwar von allen Altersgruppen.

blimu: Was ist hier mit After-Show-Party gemeint?

SR: Genau genommen gibt es mehrere in dieser Spielzeit. Bei unserer allerersten After-Show-Party, bei der wir den »ehrwürdigen« Neuhaussaal, unseren Konzertsaal, in einen groovenden Club verwandeln, haben mich zwei Damen Ende 70 zu Tränen gerührt, weil sie dort mit ihren Rollatoren getanzt haben. Gleichermaßen kommen auch junge Zuschauer/innen. Theater muss ein Platz für alle sein, und bei diesen Partys sind alle miteinander an einem Ort.
Ansonsten bedeutet mein Job auch viel Organisation, Planung, Verwaltung. Alle Künstlerinnen und Künstler werden von mir engagiert, ich bin also wirklich mit allen im Kontakt. Meinen ersten Arbeitstag hatte ich als »Get-together« auserkoren, damit sich alle neuen und alten Mitarbeiter/innen kennenlernen können, jede und jeder hatte tatsächlich »arbeitsfrei« und wir haben diverse Formate wie Führungen durch die Stadt oder durch das Theater angeboten. Vor allem hatten alle die Möglichkeit, einander kennenzulernen.

blimu: Auch wenn das schon viel ist, dennoch gibt es vermutlich noch mehr, was zu Ihrem Arbeitsalltag gehört.

SR: Dazu kommen unzählige Sitzungen in vielen Ausschüssen, bei denen man auf einmal über Dachdecken oder ähnliches mitdiskutieren muss. Als Intendant muss man auch mit Verlagen arbeiten – und da schätze ich die Arbeit mit Musik und Bühne oder Boosey & Hawkes sehr. Jetzt bei »1984« gab es hinter dem Stück gar keinen Verlag, wir haben das alles erst in die Wege geleitet. Auch bei »Der Prozess« haben wir eine Zwei-Orchester-Fassung in Auftrag gegeben. Aber selbst dann ist das alles vermutlich nicht mal ein Zehntel der Sachen, die täglich anfallen. Der Intendant ist das »öffentliche« Gesicht des Hauses.

blimu: War Ihr Weg hin zum Intendanten für Sie immer klar?

Sebastian Ritschel. Foto: Tom Neumeier Leather

SR: Nein. Hätten Sie mich vor 18 Jahren gefragt, hätte ich gesagt, dass ich Regisseur sein möchte. Das Leben und man selbst verändert sich jedoch ständig. Und rückblickend ist mein Weg schlüssig, egal ob Studium oder die Zeit in Görlitz. Da bin ich weggegangen mit dem festen Plan, endlich als freier Regisseur zu arbeiten und hatte einen gut gefüllten Terminkalender, als mich der Intendant aus Radebeul angerufen hat und gefragt hat, ob ich vielleicht Lust hätte, die Sparte Musiktheater an seinem Haus zu übernehmen, um ein bisschen neuen Schwung hineinzubringen. Das war ein sehr herausfordernder Schritt, es ist die zweitgrößte Landesbühne Deutschlands mit sehr speziellen Bedingungen. Ab da war mir schnell klar, was Leitung, Führung und Gestalten bedeuten. Manuel Schöbel ist ein toller Partner gewesen, der mir vertraut hat, und ich konnte tatsächlich »heutiges« Musiktheater gestalten. Mit meiner ersten Bewerbung auf eine Intendanz, zu der ich aufgefordert wurde, kam der gedankliche Wendepunkt, denn es ist letztendlich eine Lebensentscheidung, zumindest, wenn man das Intendantsein ernst nimmt.

blimu: Hatten Sie damals schon eine Idee davon, an welche Art Theater Sie wollen?

SR: Keine Intendanz ist vergleichbar. Jedes Theater bringt andere Voraussetzungen mit sich. Die Regensburger Findungskommission hat sich sehr intensiv mit meinen Bewerbungsunterlagen auseinandergesetzt, sie haben mir klare Nachfragen gestellt. Nach anderthalb Stunden war ich völlig fertig – aber sehr glücklich, weil es gut lief. Da ich mich immer sehr akribisch und detailliert vorbereite, kam mir das natürlich schon sehr entgegen. Daher freute mich der Anruf, dass sie mich als Intendant haben wollen, umso mehr.

blimu: Vielen Dank für das engagierte und ausführliche Interview. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre Arbeit am Theater Regensburg.