Elisabeth Sikora und Markus Olzinger: »Es hat nichts und doch alles mit uns heute zu tun«

Die beiden Gründer und Intendanten des Musical Frühling in Gmunden im Interview

blickpunkt musical: Der Musical Frühling in Gmunden ist mittlerweile dafür bekannt, anspruchsvolle und nicht unbedingt massentaugliche Musicals zu produzieren. Wie kam es zu diesem wagemutigen Schritt vor mittlerweile fast zehn Jahren?

Elisabeth Sikora und Markus Olzinger. Foto: Rudi Gigler

Elisabeth Sikora: Als wir uns kennenlernten, waren wir beide Musicaldarsteller und fanden, dass selten gespielte Stücke viel zu wenig im deutschsprachigen Raum existierten. Es gab immer wieder Ausschreibung für Blockbuster, gerade in Wien, aber ich fragte mich, wo sind denn die Stücke, die mich schon im Studium interessiert haben – »Jane Eyre« oder auch »Secret Garden«?

Markus Olzinger:  Wir kannten uns schon lange vor der Gründung des Musical Frühlings und für mich war immer klar, dass ich irgendwann in die Regie wechseln möchte. Mir wurde dann auch bei kleineren Produktionen die Regie angeboten, aber der Produzent und ich kamen in diesem Prozess nicht ganz zusammen. Dann waren Elisabeth und ich einmal in Brünn und lernten unser jetziges Orchester kennen.

ES: Mit denen war ich vorher schon auf Tour mit »Cabaret«. Noch wichtiger aber war, dass wir bei »Funny Girl« in Ingolstadt Caspar Richter kennengelernt haben. Dieser wollte nämlich auch etwas tun in der Musicalbranche, um andere Stücke, vor allem aber auch um junge Menschen zu fördern.

MO: Es gab dann fast gleichzeitig den gemeinsamen Gedanken, dass wir doch mal »Secret Garden« produzieren könnten. Wir haben uns auf die Suche nach einer passenden Bühne gemacht. Für mich war Gmunden sofort im Kopf, ich komme nicht von hier, aber durfte hier als Kind schon spielen, und es erschien mir als die perfekte Bühne für so etwas. Wir haben also beim Theater angefragt, mit allen möglichen Förderstellen gesprochen, doch es hat drei Jahre gedauert, bevor wir die erste Produktion umsetzen konnten. Das war dann auch nicht »Secret Garden«, weil wir das Geld einfach nicht hatten für das große Orchester, welches Caspar aber unbedingt wollte. Darum haben wir als erste Produktion »Blutsbrüder« vorgezogen und es mit werksgetreuer Band und acht Darsteller/innen aufgeführt. Das ist direkt eingeschlagen und so ist nach und nach alles gewachsen.

ES: Sehr geholfen hat auch, dass die Stadt touristisch im Frühjahr durch das Musical sehr belebt wurde, gerade die Hotels haben das gemerkt. Das war ein großer Pluspunkt, der sich für die Stadt einfach auszahlt. Anfangs hätten sie nicht erwartet, dass deswegen so viele Menschen kommen, aber das war ein großes Glück, für das wir aber auch sehr viel geleistet haben.

MO: Vor allem haben wir ein Publikum gewonnen, das extra hierhergereist ist. Aus der Region selbst ist am Anfang kaum jemand gekommen. Die Zuschauer/innen kamen aus dem Linzer Raum, Wien und Deutschland. Das macht sich natürlich bei den Übernachtungen bemerkbar, viele bleiben auch gleich länger und manche sogar ganz lang, gleich für den ganzen Monat. Sie schauen dann jede Vorstellung. Von daher ist es eine Erfolgsgeschichte für den Ort.

blimu: Caspar Richter an Bord zu haben hat sicher auch geholfen, denn die Musicalliebhaber wussten, dass mit ihm auch immer Qualität verbunden ist. Sie haben aber auch sehr namhafte Größen des Genres nach Gmunden geholt, um das noch mehr zu stärken.

MO: Dabei hat geholfen, dass wir schon sehr lange im Job waren, wir und auch Caspar sehr viele sehr gute Leute kannten. So konnten wir auf einen großartigen Pool von sehr tollen Darsteller/innen zugreifen und einfach überlegen, wer für was passen könnte.

ES: Gerade mit Yngve (Gasoy Romdal) ist beispielsweise auch eine wunderbare künstlerische Liebesgeschichte entstanden, er war mit »Jane Eyre« das erste Mal hier und seitdem haben wir ihn jedes Jahr gerne dabei.

MO: Das passt künstlerisch und menschlich einfach hervorragend, er genießt es hier am See und wir sind sehr glücklich, so einen Darsteller zu haben.

ES: Unsere Besetzungen sind wirklich qualitativ sehr hochwertig, wir haben großartige Leute, die mit uns arbeiten, und das macht uns sehr glücklich.

blimu: Was beim Sehen Ihrer Stücke immer auffällt – Sie entscheiden sich völlig unabhängig optischer »Normen« für Darsteller. Also das mittlerweile so populäre »Colorblind-Casting« erfüllen Sie meines Erachtens seit Jahren am meisten von allen Produktionen, die mir einfallen. War dies eine bewusste Entscheidung?

MO: Nein. Diese Frage stellt sich für uns nicht. Ich betreibe immer Typ-Casting, aber nicht im Sinne von »Wie sieht jemand aus?«, sondern ausschließlich »Wie fühlt sich jemand an – welche Charaktereigenschaften bringt dieser jemand mit?«. Es zählt: Was kann man aus jemandem herauskitzeln, was kann die Person mit einbringen in die Rolle? Jeder kann theoretisch alles spielen, aber wenn es ehrlich werden soll, muss in dem Menschen schon ein gewisses Grundgefühl veranlagt sein.

ES: Natürlich muss auch die stimmliche Qualität passen. Oft kommt eine Besetzungsentscheidung auch aufgrund eines Konzert- oder Vorstellungsbesuchs zustande. So war ich zum Beispiel bei »Hollywood in Vienna« von der Ausstrahlung von Kudra Owens so begeistert, dass ich sofort dachte, mit ihr möchte ich unbedingt arbeiten. Da wussten wir sofort, dass sie eine wunderbare Mutter in »Briefe von Ruth« wäre.

MO: Natürlich ist das bei vielen ein großes Thema – das bekommen wir oft mit –, gerade bei historischen Stücken wird dann gesagt, dass man bestimmte Dinge so doch gar nicht machen könnte und sollte. Hinterher wird es auch in manchen Rezensionen kritisiert, das hatten wir schon. Und natürlich hat die historische Irma Maier anders ausgesehen, aber wir machen schließlich Theater. Darum verstehe ich nicht, wie Hautfarbe überhaupt ein Kriterium sein kann. Ehrlich gesagt, würde sich in einer Oper doch niemand diese Frage stellen, daher empfinde ich allein diese Gedanken im Musical als nahezu rückständig. Man sollte viel mehr danach entscheiden, ob der Mensch eine tolle Stimme hat oder nicht. Es erschreckt uns aber auch immer wieder, dass das überhaupt so ein großes Thema ist. Uns ist es doch auch egal, ob jemand dick, dünn, groß oder klein ist. Manchmal ist man selbst auch nicht immer ganz frei von Rollenbildern im Kopf, die sich entwickelt haben. Doch wir versuchen zumindest, uns davon zu lösen. Selbst jetzt für die Rolle der Ruth war für uns nur entscheidend, wie die Darstellerin auf der Bühne wirkt – welchen ethnischen Hintergrund sie hat, kann uns doch völlig egal sein.

Plakat: Musical Frühling in Gmunden

blimu: Ruth ist ein gutes Stichwort – wie kam es dazu, dass »Briefe von Ruth« bei Ihnen Uraufführung haben durfte?

ES: Wir haben mit Gisle (Kverndokk) schon seit 2017, seit »Sofies Welt« einen intensiven künstlerischen Kontakt. Wir haben das Stück neu bearbeitet sowie auch sein Stück »Vincent van Gogh« in einer neuen Bearbeitung zur österreichischen Erstaufführung gebracht. Die Autoren wussten, was sie bei uns bekommen, wie wir arbeiten. Das war jetzt auch in Bezug auf die Übersetzung wichtig, denn diese wollten wir in unseren Händen halten. Mir war es wirklich immens wichtig, dass die Sprache von Ruth gut transportiert ist, gerade bei Stücken aus dieser Zeit muss man da sensitiv sein. Es war meine erste große Übersetzung, aber durch die gemeinsamen Arbeiten vorher war das Vertrauen in uns, in mich, mittlerweile vorhanden. Für Aksel-Otto Bull und Gisle Kverndokk ist das Stück ebenfalls ein echtes Herzensprojekt, entsprechend war es ihnen noch wichtiger, in welchen Händen die Uraufführung dann liegen wird. Die New York Opera Society hat dann nach einem Ort im deutschsprachigen Raum gesucht, an dem es uraufgeführt werden könnte, und Gisle hat es uns vorgeschlagen. Wir waren darüber sehr glücklich, hatten wir doch immer vor, irgendwann mal eine Weltpremiere auf die Bühne zu bringen, auch wenn eine Uraufführung ein gewisses Risiko birgt. Doch »Briefe von Ruth« ist sehr, sehr gut angekommen, selbst der Bundespräsident hat uns seinen Ehrenschutz gegeben, weil das Thema anzugehen einfach sehr wichtig und sehr mutig ist.

blimu: Es ist ungewöhnlich, dass es jeden Abend eine Einführung zu der Vorstellung gibt, Sie sind diesen Schritt bewusst gegangen. Wie kam es dazu?

ES: Wie man diesen Teil unserer Geschichte in einem Musical umsetzen kann, war eine der häufigsten Fragen, die uns gestellt wurden. Da lud ich jede/n ein, sich selbst ein Bild zu machen, nutzte jedoch die Einführung, um das Publikum im Vorfeld durch die wichtigen Eckpunkte von Ruths Geschichte zu navigieren, unter anderem auch, weil viele die Geschichte Norwegens unter der NS-Zeit nicht kennen, so wie auch die norwegische Dichterin und Ruths Geliebte Gunvor Hofmo bei uns nicht bekannt ist.

MO: Dass Musical seichte Unterhaltung ist, ist gerade im deutschsprachigen Raum ein Vorurteil, das einem oft begegnet. Auch mit Medien gab es da im Vorfeld Diskussionen, ob Musical das überhaupt könnte, denn die Musik wäre doch in Musicals immer so trivial. Und das stimmt gar nicht, im Gegenteil, viele Musicals haben eine sehr anspruchsvolle Musik. Dazu kommt bei uns, dass das Stück von der New Yorker Opera Society in Auftrag gegeben wurde und Gisle eigentlich aus der zeitgenössisch-klassischen Musik kommt. Wir haben wundervolle Melodien, aber auch Momente, in denen man die zeitgenössische Klassik einfach stark merkt.

blimu: Wie war dabei Ihre Herangehensweise?

MO: Wenn man die ersten Aufnahmen aus Washington hört, dann klingt es wie eine Oper. Für uns war aber immer klar, dass es, wenn wir es produzieren, ein Musical werden soll. Bei Bernstein zum Beispiel wird ja auch nicht diskutiert, ob etwas ein Musical ist. Entscheidend ist , wie es dann auf der Bühne interpretiert wird. Modernes Musiktheater kann einfach alles sein. Wir haben mit Gisle im Vorfeld gesprochen und entschieden, aus dem ursprünglichen Kammerstück eine größere Fassung zu machen. Die Ursprungsfassung bestand nur aus vier Musiker/innen, für uns hat er dann eine größere Fassung orchestriert, weil uns Bläser und Schlagwerk sehr wichtig waren, um den Musicalcharme noch mehr ausleben zu können.

Yngve Gasoy Romdal und Jasmina Sakr in »Briefe von Ruth«. Foto: Peter Kainrath

blimu: Sie arbeiten mit einem eher schlichten Bühnenbild, welches durch sehr geschickte Lichtsetzung dennoch alle möglichen Räume entstehen lässt. Selten gibt es dann auch mal Projektionen zu sehen. Sind dies Originalbilder?

ES: Ja. Man könnte das ganze Stück mit Originalfotos ausstatten, es ist damals tatsächlich sehr vieles dokumentiert worden.

MO: Wir haben uns jedoch bewusst dagegen entschieden und nutzen sie wirklich nur an bestimmten Stellen, um dann diese Zeitdokumentation zu haben. Dafür haben wir uns wirklich starke Bilder ausgesucht, so zum Beispiel das von den Kindertransporten.

ES: Laut Dokumentationsarchiv ist dies allerdings das einzige Bild, das es von den Kindertransporten in Wien gibt. Je tiefer wir in das Material eingetaucht sind, desto sprachloser sind wir selbst geworden. Die Probenzeit war wirklich hart, das muss man auch mal sagen: »Hut ab vor den Darsteller/innen!« Wir arbeiten sehr intensiv mit ihnen, versuchen, immer sehr in die Tiefe zu gehen. Dabei haben wir immer wieder Textstellen aus dem Buch vorgelesen, sie in den zeitlichen Kontext gesetzt und dann haben wir mit jedem gearbeitet, aber jedem die Freiheit gelassen, wie tief sie oder er dann wirklich eintauchen wollten. Jasmina (Sakr, Besetzung der Ruth, Anmerkung.der Redaktion) hat diese Gradwanderung wirklich ganz beeindruckend für sich erarbeitet und eine super Balance gefunden, wie sehr sie das Thema an sich heranlässt.

blimu: Sie haben für die Thematik große, öffentliche Unterstützung erhalten, wie von dem eben schon genannten Bundespräsidenten.

ES: Ja, dennoch wollen viele das Thema gefühlt gar nicht mehr an sich heranlassen, gerade Jugendliche haben argumentiert, dass es doch nichts mehr mit ihnen zu tun habe und sie daher nicht darüber sprechen wollen.

MO: Wobei ich glaube, dass die Ursache dafür eher bei den Eltern liegt. Diese wollen sich nicht mehr damit beschäftigen und geben das Thema daher nicht mehr an die jungen Menschen weiter. Diese hingegen wären schon sehr interessiert. Wir haben zum Beispiel eine Schulklasse, die nur auf Wunsch der Jugendlichen in die Vorstellung kommt.

ES: Man kann es ohnehin nicht verallgemeinern. Wichtig ist, dass man im Gespräch bleibt, denn, wie ich schon in der Einführung sagte – es hat nichts und doch alles mit uns heute zu tun. Was man hier aber auch deutlich merkt, ist der erhöhte Redebedarf während der Pause und auch nach der Show. Viele kommen zu uns und reden mit uns, erzählen uns ihre Geschichte. Es sind auch immer wieder Menschen dabei, die sagen, dass bei ihnen zu Hause nie über den Krieg gesprochen wurde. Sie nehmen das Stück zum Anlass, um das Thema neu zu ver- und zu bearbeiten. Es gibt jetzt auch ein Mahnmal hier in der Stadt, welches – nicht unumstritten – zu unserer Premiere eröffnet wurde. Dass das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus hier wieder ein Thema ist, präsent ist, das finde ich gut.

blimu: Subventionen sind ein sehr schwieriges Thema. Viele freie Produzenten stehen in einem ständigen Kampf mit den Preisen, die subventionierte Theater verlangen können. Andere subventionierte Theater verlangen mittlerweile Preise, die sich von freien Theatern gar nicht mehr unterscheiden, was auch nicht richtig sein kann.

MO: Subventioniertes Theater ist eine großartige Sache, wenn der Auftrag, der damit verbunden ist, auch wirklich ernst genommen wird. Wenn dann aber Stücke entstehen, in denen Frauen- und Homosexuellenbilder, die in der heutigen Zeit mehr als fragwürdig sind, vorkommen, nur um bei einer gewissen Publikumsschicht für Lacher zu sorgen, um so die Häuser vollzubekommen, dann ist – in meinen Augen – der Subventionsauftrag nicht mehr erfüllt. Bei uns zum Beispiel ist Homosexualität Teil des Stücks, ohne dass wir ein Thema daraus machen. Es ist einfach ein normaler Teil des Lebens, wie es ja auch sein sollte. Es haben auch viele gesagt, dass unser Umgang damit einfach wirklich mal guttut.

blimu: Müssen Sie denn hier noch Jahr für Jahr neue Anträge stellen, oder ist der Musical Frühling jetzt schon gesetzt?

MO: Wir müssen immer wieder neue Anträge stellen, aber es ist schon deutlich leichter geworden. Die Entscheidungsträger/innen von der Stadt, vom Tourismus und vom Land wollen, dass es uns weiterhin gibt, daher sind das keine großen Kämpfe mehr.

blimu: Wissen Sie denn schon, was 2024 als nächstes Musical kommen wird?

ES: Wir dürfen das leider noch nicht sagen, da wir noch immer in den Verhandlungen stecken. Für Juni ist die Pressekonferenz geplant.

blimu: Herzlichen Dank für Ihre Zeit, wir wünschen Ihnen beiden alles Gute für die kommenden Jahre und viel Energie, weiterhin so wertvolle Stücke auf die Gmundener Bühne zu bringen!