Es ist schön zu sehen, welchen Stellenwert hier Musical-Aufführungen haben

Interview mit Gil Mehmert zur Uraufführung von »Beethoven« von Michael Kunze & Sylvester Levay in Südkorea

Gil Mehmert
Foto: Brinkhoff / Mögenburg

blickpunkt musical: Wie kam es zu dieser spannenden Konstellation, dass Sie als Regisseur nun in Südkorea »Beethoven« von Michael Kunze / Sylvester Levay zur Uraufführung bringen dürfen?

Gil Mehmert: Schon bei der Vorbereitung zu unserer gemeinsamen Produktion von »Lady Bess« mit Premiere im Februar 2022 in Sankt Gallen hat Michael mir gegenüber erwähnt, dass er und Sylvester dieses »Beethoven«-Musical in Planung für Seoul haben und dafür am liebsten einen europäischen Regisseur hätten. Damals war aber, insbesondere aufgrund der Corona-Situation, die Datenlage noch sehr ungefähr. Michael hatte mir auch schon beeindruckendes Material vorgespielt und als Einstieg erklärt, dass es hier – anders als bei »Mozart!« – weniger um die äußeren Umstände einer ganzen Künstlerbiographie ginge, sondern um einen bestimmten Lebensabschnitt und um das Innere dieses Musik-Revolutionärs. Der besondere Clou ist allerdings, dass Michael und Sylvester hier ausnahmslos Melodien von Ludwig van Beethoven selbst nutzen, die Michael dann entsprechend vertextet und Sylvester kompositorisch angereichert und arrangiert hat, um daraus ein Musical zu kreieren. Mich hat das gleich fasziniert und natürlich hatte ich seit diesem Gespräch gehofft, der gesuchte europäische Regisseur zu werden und mich auch schon, sozusagen heimlich, in die Materie eingearbeitet, um gegebenenfalls vorbereitet zu sein. Ohne dass wir dann jemals weiter darüber gesprochen haben, hat mich Michael tatsächlich relativ zeitnah nach »Lady Bess« angerufen und gefragt, ob er mich der koreanischen Produktion vorschlagen dürfe. Geradezu schicksalshaft hat der Inszenierungszeitraum zeitlich in meine Pläne gepasst, aber ohne die Unterstützung meiner Kollegen an der Folkwang-Universität und meiner Familie hätte ich eine so lange Abwesenheit von 10 Wochen von zu Hause nicht leisten können.

blimu: Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit am Theater – mit der Cast, mit dem Team vor Ort – von dem, was Sie hier aus dem deutschsprachigen Raum gewohnt sind?

GM: Zunächst sind Ablauf und Strukturen in Vorbereitung und Durchführung nicht unähnlich einer großen Ensuite-Produktion, wie es sich international unter amerikanischem Einfluss standardisiert hat. Ein großer Unterschied ist allerdings, dass es für die wesentlichen Hauptrollen bis zu drei gleichberechtigte Darsteller gibt, die oft auch alle gemeinsam in den Proben sitzen und dann jeder ihre Probenzeit einfordern. Als ich das registriert hatte, war mir auch klar, warum der Probenzeitraum so lange angesetzt ist. Das Entwickeln einer Regiearbeit mit einer First-Cast, deren Interpretation dann von den Covern möglichst detailgetreu ausgeführt wird, ist wesentlich effektiver und zeitsparender. Hier braucht es natürlich auch viel Psychologie, da unausgesprochen eine gewisse Konkurrenz besteht und jeder andere Schwerpunkte und Aspekte einbringt. Hinzukommt der ungeheure Einfluss der sogenannten Superstars der Szene, die gerne mitbestimmen möchten, sobald es irgendwo Raum dafür gibt. Man muss also dafür sorgen, dass es auf keiner Ebene zu einem Vakuum kommt, das man nicht selbst überzeugend füllen kann.

blimu: Sprechen Sie Koreanisch oder ist die Bühnenprobensprache Englisch? Gibt es dadurch ungewohnte Herausforderungen und vielleicht die eine oder andere Anekdote zu erzählen?

GM: Die Arbeitssprache meinerseits ist Englisch. Natürlich habe ich einige wesentliche Wendungen wie Guten Tag, Danke schön, Auf Wiedersehen, Bitte noch mal etc. inzwischen auch auf Koreanisch im Repertoire, aber damit käme ich nun wirklich nicht weit bei der Arbeit. Viele Beteiligte verstehen auch ganz gut Englisch, aber es herrscht eine große Zurückhaltung, diese Sprache anzuwenden. Jeder ausländische Mitarbeiter hat also einen eigenen Dolmetscher an der Seite, der alles mehr oder weniger simultan übersetzt. Das hat sich relativ schnell gut eingespielt, dennoch gibt es natürlich immer Verluste in den Feinheiten. Insbesondere weil ich gerne rhetorische Mittel, Wortspiele, Bilder und viele Pointen einsetze, bin ich gewohnt, bei meinen Ausführungen nicht selten Lacher zu ernten. Was schon allein schön ist, um eine lockere Atmosphäre zu kreieren. Nicht dass es hier nicht auch immer lockerer würde, aber der unmittelbare Spaß, mit Sprache zu jonglieren, fällt natürlich  weg. Da ich hier zusätzlich auch deutschsprachige Mitarbeiter um mich habe, kommt man zwischen den drei Sprachen schon mal durcheinander und setzt dann versehentlich einen Vortrag auf Deutsch an, ohne zu bemerken, dass einem schon länger keiner mehr folgen konnte.

Die größte Herausforderung in diesem Aufeinandertreffen der Sprachen ist jedoch die richtige Übersetzung des Librettos ins Koreanische. Es war wohl naiv, davon auszugehen, dass die Übersetzung bereits zu Probenbeginn bühnenreif vorläge. Es wird immer noch daran gefeilt, den Inhalt sprachlich angemessen zu übertragen. Es gibt sogar Passagen, bei denen es sich nicht verhindern lässt, dass jeder Solist des gleichen Charakters manche Passagen in anderer persönlicher Übersetzung singt. Was man sonst nur von Tonarten kennt, dass diese schon mal individuell nach Besetzung angepasst werden, erweitert sich hier also auf die Nuancen der Sprache. Dazu muss man sich zum Beispiel klar machen, wenn im englischen Libretto für »Thanks« eine Silbe nötig ist, braucht man im Deutschen mit »Danke« schon zwei und im Koreanischen mit »gam-sa-ham-ni-da« gleich fünf Silben.

blimu: Bitte erzählen Sie uns etwas über die Geschichte und Ihre Schwerpunkte der Inszenierung des Musicals.

@ EMK Musical 2023

GM: »Beethoven« erzählt das Geheimnis um den Brief »An die unsterbliche Geliebte«, der ohne Namens-Adresse in seinem Nachlass gefunden wurde. Michael Kunze legt sich hier fest, dass es sich um die Frau des Frankfurter Kaufmanns Franz Brentano handelt, also um Toni Brentano. Beide begegnen sich 1810 in Wien, entdecken sich als Seelenverwandte und finden in ihrer jeweiligen Einsamkeit endlich jemanden, mit dem sie ihre Gedanken und Vorstellungen teilen können. Aber da Toni verheiratet ist, kann sie dieser Liebe nicht nachgeben und schreibt zunächst einen unmissverständlichen Trennungsbrief an Ludwig. Zwei Jahre später aber begegnen sich beide schicksalhaft in Prag wieder. Während gleichzeitig die Gefühle nicht mehr aufzuhalten sind und es zum benannten Brief »An die unsterbliche Geliebte» kommt, muss sich der Komponist immer klarer damit abfinden, sein Gehör zu verlieren. Franz Brentano vermag, mit Hilfe einer Drohkulisse, die Trennung von seiner Frau zu verhindern. Beethoven ergibt sich seinem Schicksal und schafft es, die nicht gelebte Liebe und alle ihre dramatischen Empfindungen, trotz Verlust des äußeren Hörens, in seiner letzten Schaffensepoche in ungeheure, so noch nie gehörte Musik zu verwandeln. Dazu bedient sich Michael Kunze als metaphysische Ebene einer Gruppe von Ghosts of Music, deren Interesse es ist, dass Beethoven sich keinesfalls auf ein bürgerliches Leben einlässt, sondern sich ganz nach Innen verschließt, um sein Genie der Hinterlassenschaft einer unsterblichen Musik zu widmen. Eingerahmt und begleitet ist diese sehr psychologische Geschichte u. a. von ebenfalls historischen Nebenfiguren wie Ludwigs Bruder Kaspar, Tonis Schwägerin Bettina von Armin und dem Grafen Kinsky.

Die Inszenierung wird, insbesondere durch die Basis der klassischen Musik, durchaus auch opernhafte Momente schaffen, die aber extrem dynamisch erzählt werden. Die Bühne verbindet einen sehr ästhetischen klassischen Look mit den Möglichkeiten aufwendiger digitaler Effekte. Da ich selbst Koreanisch nicht verstehe, war es auch in meinem Interesse, die Handlung reizvoll derart in Bilder und Vorgänge zu verwandeln, dass man diese auch ohne entsprechende Sprachkenntnisse nachempfinden kann.

blimu: Gibt es Überlegungen, dieses Konzept nach Europa zu transferieren, oder würde die europäische Erstaufführung gänzlich anders aussehen?

GM: Zunächst wird diese Produktion nach Japan übertragen und ich würde mich freuen, wenn dieses Musical auch seinen Weg nach Europa findet. Doch das haben andere zu entscheiden. Natürlich gibt es mit Rücksicht auf asiatische Empfindungen und Geschmäcker gewisse Umsetzungen, die man in Europa anders, um nicht zu sagen härter und verstörender erzählen könnte.

blimu: Sie haben schon an vielen Orten gearbeitet und überall wird Musical anders aufgenommen / wertgeschätzt. Wie nehmen Sie dies jetzt in Korea wahr?

GM: Es ist schön zu sehen, welchen Stellenwert hier Musical-Aufführungen haben, welche ungeheure Resonanz und Nachfrage diese nach sich ziehen. Und dass eben nicht das Abspielen der amerikanischen Marken den Markt dominiert, sondern europäische Stoffe und Werke sich hier größter Beliebtheit erfreuen. Die Stücke von Kunze / Levay sind wahrscheinlich Marktführer hierzulande, wobei es sich um den drittgrößten Musicalmarkt weltweit handelt. Jede Aufführung, die ich hier bisher sehen konnte, war ausverkauft. Und das in Häusern, die mindestens 2000 Zuschauer fassen. Zudem gibt es hier eine unglaubliche Fankultur und Superstars, die schon allein durch ihre Mitwirkung die Häuser füllen. Während der Proben kommen regelmäßig Pakete von Fangruppen für alle Mitarbeiter der Produktion, die besondere Lunchpakete mit den Aufdrucken ihrer mitwirkenden Idole schmücken. So wurden auch alle Mitarbeiter von den Fans unverzüglich mit den Musical-typischen Hoodies mit dem Show-Logo unseres Musicals ausgestattet.

blimu: Herzlichen Dank für die Zeit, die Sie sich so kurz vor der Uraufführung für uns genommen haben. Wir wünschen Ihnen alles Gute für die kommenden Wochen und Toi Toi Toi für den 12. Januar 2023!

Die Fragen stellten Sabine Haydn und Barbara Kern