»Ich habe nur getan, was getan werden musste« – Rezension zur Uraufführung »Tell«

„Ich habe nur getan, was getan werden musste. Sie sollen mich in Frieden lassen, mehr will ich nicht.“ Dies sind die Worte Wilhelm Tells (Fabian Egli), bevor er den Arm um seine kleine Familie legt und mit ihr den Berg hinaufsteigt — entgegen der jubelnden Menschenmenge, die ihn als Helden feiern möchte.

Doch wer ist der Mann, den Marc Schubring mit seinen klangvollen Kompositionen zeichnet, die musikalisch zwischen Claude-Michel Schönberg, Maury Yeston und Frank Wildhorn liegen, und doch einen ganz eigenen Charakter haben? Wer der Mann, dessen im besten Sinne einfache und klare Denkweise, Wolfgang Adenbergs Liedtexte so viel Aussagekraft geben, die auch Schiller’sche Versatzstücke geglückt verarbeiten? Selten hört man in einem Musical eine solch schöne Sprachmelodie wie in Tell. Wer der Mann, dessen Figur Hans Dieter Schreebs Buch als Inbild von Geradheit, Ehrlichkeit und Mut auf die Bühne bringt und als einen Menschen, der sich nichts mehr wünscht, als mit seinem Sohn und seiner Frau in Frieden zu leben?

Wilhelm Tell ist der Held des gleichnamigen Dramas Friedrich Schillers, den dieser auf Basis von Legenden und historischer Recherchen mit Unterstützung von Johann Wolfgang von Goethe Anfang des 19. Jahrhunderts geschaffen hat. Als Symbol der Befreiung der Waldstätte, der Urschweiz mit ihren Kantonen Uri, Schwyz und Unterwalden, wurde er zu einem lebendigen Schweizer Mythos.

Das Musical erzählt diesen Mythos als Geschichte eines Helden wider Willen. Aus dem Gefängnis entlassen, in dem er einsaß, da er einen Hasen zu viel geschossen hatte, gerät Tell als Helfer in der Not erneut mit dem Gesetz in Konflikt. In seinem Rechtsempfinden kann er nicht anders, als Konrad Baumgartner (Matthias Beurer) zu helfen, über den See zu entkommen. Seinem Schwiegervater Walter Fürst (Christoph Wettstein) aus Altdorf in Uri, der ihn überzeugen will, sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, erteilt er eine Absage. Während die Stimmung gegen die Willkürherrschaft des Landvogts Heinrich Gessler (Bruno Grassini) wächst, und Werner Freiherr von Attinghausen (Florian Schneider), ein alter Schweizer Adliger, die Vertreter der Bauern und Bürger von Uri, Schwyz und Unterwalden ermutigt, sich ihre Freiheit zu erkämpfen, und schließlich die drei Urkantone auf der Rütliwiese einen Bund schließen, hält sich Tell weiterhin abseits. Als jedoch Gessler verlangt, dass man seinem Hut den gleichen Respekt erweist, wie ihm selbst, ist Tell nicht bereit, seinem Sohn als gutes Beispiel voranzugehen. Unglücklicherweise hasst Gessler den Jäger Tell seit einer Begegnung in den Bergen zutiefst, als sein hoher Gast, Herzog Johann (Patric Scott), Neffe des habsburgischen Königs Albrecht I., Zeuge seiner Schwäche und Todesangst vor dem Schützen wurde (Nicht ungestraft). Tells Weigerung liefert ihn Gesslers Willkür aus, der ihn zu einem perfiden Schuss auf seinen eigenen Sohn zwingt, dem der Meisterschütze den Apfel vom Kopf schießt. Doch weshalb hat Tell direkt nach dem Schuss, einen zweiten Pfeil auf die Sehne gelegt? Im Vertrauen auf das Versprechen, dass ihm nichts geschehe, wenn er die Wahrheit sagt, erklärt er in aller Ehrlichkeit, dass er den Landvogt erschossen hätte, wäre sein Sohn umgekommen. Gessler verurteilt Tell in seiner Wut zu lebenslangem Kerker und lässt ihn fortschaffen. Doch der Verurteilte kommt frei, als er die Vollstrecker im Sturm über den See rudern muss, lauert dem Landvogt in der „Hohlen Gasse“ nach Küsnacht auf und erschießt ihn. Obgleich er nur die seinen vor dem Wahnsinnigen schützen wollte, wird seine Tat zum Signal für den Burgenaufstand. Parallel dazu ermordet Herzog Johann seinen königlichen Onkel. Dessen Tod und des Königsmörders Flucht stehen wie bei Schiller für das Ende der Habsburger Herrschaft über ihr ursprüngliches Stammland in der Schweiz. Historisch wird das heute anderes eingeordnet.

Dieses Gebiet, in dem die Gemeinden in den Waldgebirgen lagen und Tell als Jäger mit der Armbrust unterwegs war, empfand Christoph Weyers in seinem lebensgroßen Bühnenbild beeindruckend nach, das ganz aus Rundhölzern besteht. Stufig aufgeschichtet zu Holzpyramiden wie für ein Sonnenwendfeuer stellen sie auf der 60m breiten und 30m tiefen Bühne die begehbare Bergwelt dar, in der Tell und Gessler aufeinandertreffen. Auf der linken Vorderbühne wurde das Holzhaus Tells aufgebaut, auf der Ebene des Orchesters das sog. „Steinhaus“, das Werner Stauffacher (Wolfgang Grindemann) und seiner Frau Gertrud (Sylvia Heckendorn) gehört, und auf der rechten Seite die Schankstube von Tells Schwiegervater Walther Fürst (Christoph Wettstein). An den beiden Beleuchtertürmen befindet sich auf halber Höhe jeweils eine Terrasse: zur Linken mit einem Vorbau des Schlafgemachs des Freiherrn von Attinghausen, bei dem sich die Aufständischen treffen, zur Rechten die Empfangshalle des von Habsburg eingesetzten Landvogts Gessler, von dessen Plateau eine Brücke auf den hinteren Teil der Bühne führt, unter welcher die Hohle Gasse hindurchführt, in der Gessler von Tell erschossen wird. Weyers schuf nicht nur ein eindrucksvolles Tableau vor der nicht minder beindruckenden Kulisse des Walensees mit den Churfisten, sondern verknüpft auch die verschiedenen Schauplätze, zwischen denen die Akteure viele Meter zurücklegen müssen, miteinander und setzt gut erkennbar die Konstellation von Unterdrückten und Unterdrückern – Tell und Gessler – Bauern und Obrigkeit ins Bild.

Wilhelm Tell wird von dem Schweizer Fabian Egli (Ché in ‚Evita‘ in Neustrelitz, ab der kommenden Spielzeit festes Mitglied an der Musikalischen Komödie Leipzig) gespielt. Der warme Bariton des ausgebildeteten Opernsängers unterstreicht die geradlinige Natur des Vaters und Beschützers Tell (Mehr verlang ich nicht). Eglis gemessene Gesten und die selbstbewusste Haltung verleihen ihm eine große Präsenz. Man nimmt ihm ab, dass sein Tell jemand ist, dem die Leute Gehör schenken. Als Jäger steht dieser zwischen den Welten der Bergbauern

Foto: swiss-image.ch/Andy Mettler

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und des herrschenden Landvogts. Was er jagt, verkauft er und muss selten seinen Kopf vor der Obrigkeit neigen, aber er würde seine Armbrust auch nicht gegen sie erheben. Im Gegenteil — sein Credo lautet: „Obrigkeit wird es immer geben, und wir werden es nie sein“. Von der Hinterhältigkeit eines Gesslers weiß Tell nichts. Erst nach der perfiden Machtprobe ist der einfache Mann der Überzeugung, dass er diesen gefährlichen Mann, dessen Willkür nicht einmal vor einem Kind haltmacht, beseitigen muss. Gleichwohl kämpft er bis zuletzt mit sich, ob es keinen anderen Weg gibt. Die zusammenhängenden Titel Hohle Gasse und Ein einfacher Mann — zwischen wütendem Aufschrei und Gebet — zeigen einen zerrissenen Tell, der erstmals nicht weiß, wie er handeln soll. Einen Menschen zu töten, ist ihm zuwider. Zuletzt versucht er sein notwendiges Handeln als Willen Gottes zu erklären, und wie die biblischen Propheten nimmt er seine Rolle in Gottes Plan widerwillig an. Es ist verständlich, dass Schillers berühmte Verse in Tells Reaktion Nach dem Schuss aufgenommen wurden: „Befreit sind nun die Hütten und das Land“. Doch passt der triumphale Ausruf nicht zu dem Tell, wie ihn Hans Dieter Schreebs Buch und Wolfgang Adenbergs Verse zeichnen. Viel schlüssiger erscheint es, dass Tell nach seiner Tat allein heimkehrt zu seiner Familie — froh, dass er und die seinen am Leben sind, anstatt sich den anderen Aufständischen anzuschließen.

Tell und Gessler, verkörpert von Bruno Grassini, bilden dramaturgisch das Gegensatzpaar des Musicals, was auch der körperliche Größenunterschied unterstreicht.

Bruno Grassini spielt Landvogt Heinrich Gessler nuanciert und mit sich steigernder Intensität als intriganten, gefährlichen Machtmenschen. Diese Steigerung wird auch in den Reprisen seiner großen Songs Die Schönheit der Macht, Nicht ungestraft und Respekt spürbar. Passenderweise wird Grassini bei Respekt durch ein hydraulisches Bühnenelement buchstäblich über alle erhoben, deren Respekt Gessler erheischt. Senkrecht auf dem Kopf trägt der Landvogt einen hohen Zweispitz — den Hut, welcher später als Kopfbedeckung Napoleons zum Symbol seines Herrschaftsanspruchs in Person wird. Genauso ist hier Jahrtausende früher das Aufpflanzen des Gesslerhutes auf dem Marktplatz zu verstehen. Er soll ihn als allgegenwärtigen Herrscher symbolisieren. Gesslers Lust an der Ausübung der Macht lässt ihn eine Frau ebenso willkürlich erniedrigen wie später Tell. Was er möchte, das nimmt er sich, und doch ist der Landvogt nur das Herrschaftsinstrument des habsburgischen Königs; er selbst besitzt gar nichts außer seinem Titel. Was ihn nicht daran hindert, sich mit Caesar und Alexander dem Großen zu vergleichen (Respekt) — unterstrichen von einem hinreißend dämonischen Blick Bruno Grassinis. An Gesslers Seite steht sein Hauptmann, sehr präsent und sprachlich herausgehoben von Oliver Koch gegeben, der geradezu als Verkörperung des Hasses auf das „Bauernpack“ erscheint.

Zwischen Tell und Gessler stehen die persönlichen Vertreter der Urkantone Schwyz, Uri und Unterwalden, in denen die Unzufriedenheit gegen die Willkürherrschaft Gesslers wächst: Landammann Werner Stauffacher (Wolfgang Grindemann) vertritt Schwyz, Gastwirt Walther Fürst (Christoph Wettstein) Uri und Arnold vom Melchtal (Oliver Frischknecht) ist der Vertreter von Unterwalden.

Foto: swiss-image.ch/Andy Mettler

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Christoph Wettstein erfüllt seine Rolle als mutiger und stolzer Bürger, der sich nichts mehr gefallen lassen möchte, und überzeugt bei seinem Aufruf Mit Männern wie dir, mit dem er seinen Schwiegersohn Tell bewegen möchte, bei dem Aufstand gegen Gessler mitzuwirken. Seine wohltönende, klare Gesangsstimme setzt er auch bei der großen Hymne ein, die Schubring und Adenberg mit ihrem Rütlischwur geschaffen haben. Oliver Frischknecht war bei unserem Besuch leider stimmlich nicht auf der Höhe, spielte aber seinen jungen Arnold vom Melchtal überzeugend unbedarft und draufgängerisch. Als er sich weigert, den Steuereintreibern die letzte Kuh auszuliefern, muss er flüchten und Walther Fürst versteckt ihn bei sich. Später muss er erfahren, dass seinem Vater wegen seiner Flucht, die Augen ausgestochen wurden, und möchte sofort Rache nehmen.

Wolfgang Grindemann verkörpert mit feinsinnigem Schauspiel den besonnenen Landammann (Schweizer Amtsbezeichnung für einen gewählten Landrat) Werner Stauffacher aus Schwyz, der sich lange nicht dazu durchringen kann, zu handeln. Seiner Frau Gertrud (Sylvia Heckendorf) gelingt es schließlich, ihn zu überzeugen, sich mit den anderen zu treffen und gemeinsam etwas gegen Gesslers Willkürherrschaft zu unternehmen. Grindemann zeigt wunderbar, wie Stauffacher an seinen Aufgaben wächst. Klingt seine Stimme zunächst zu Anfang des Rütlischwurs noch unsicher, blickt doch alles auf ihn, als einen, der im Glauben an die rechte Sache vorangeht. Gerade, weil er kein Draufgänger ist, folgen ihm die Leute.

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Sylvia Heckendorf spielt die starke kluge und emotionale Gertrud Stauffacher hinreißend, In ihrer aufmunternden Rede findet sie genau die richtigen Worte, um ihren Mann an seinem Gefühl und seiner Ehre zu packen — Wenn nicht du, wer dann? Sie hat auch den Mut, Gessler um Nachsicht gegen Tell zu bitten, wenn auch vergeblich. Armin Werners Kostümbild, das bis in das Unterschlagen des Gürtels hinein, die Menschen in ihrem Stand unterscheidet, hebt die Landammann-Frau mit einem geschnürten Mieder und einem farbigen Band, das ihren geflochtenen Haarkranz ziert und das sonst nur Frauen von Adel kaufen, als freie Frau eines Landbesitzers heraus.

Gertrud von Stauffacher, Hedwig Tell (Pia Lustenberger) und Berta von Bruneck (Evelyn Suter) bilden die lebensklugen und emotionalen Frauenfiguren, die in der Dramaturgie des Musicals die Aufgabe übernehmen, ihre Männer und Liebsten aufzurütteln oder zu warnen. Zugleich verbinden die Drei als Frauen aus unterschiedlichen Lebensumständen die Welten von Bauern und Adel.

Pia Lustenberger spielt Tells Frau Hedwig mit großer Natürlichkeit, man leidet mit ihr, wenn ihre Warnungen bei ihrem Mann nichts bewirken, sondern Tell mit seiner eigenen urigen Sturheit seinen Willen durchsetzt, und ihre wachsende Angst ihn nicht berührt. Ausdruck findet Hedwigs aufgestaute Verzweiflung in der Reprise von Mehr verlang ich nicht, um so dramaturgisch abrupter kommt hier ihre Einsicht in die höhere Rolle, die Tell möglicherweise als Person der Geschichte spielen könnte.

Foto: swiss-image.ch/Andy Mettler

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Auch Tells Sohn Walter, knabenhaft gesungen und bezaubernd jungenhaft dargestellt von Annette Huber, übernimmt in der Geschichte eine wichtige Aufgabe. Er lernt von seinem Vater in einer besonders liebenswerten und im Nachhinein sehr bedeutenden Szene, dass es beim Schuss des Jägers in erster Linie darauf ankommt, dass man sein Ziel kennt und es konzentriert angeht: Wenn du ein Ziel hast. Der Knabe verinnerlicht diese Botschaft und vermag deshalb letztlich, seinem Vater und sich selbst das Leben zu retten, als Gessler von Tell verlangt, den Apfel vom Kopf seines Sohne zu schießen. Tell weigert sich, Gesslers Befehl Folge zu leisten und will lieber sterben, als sein Kind in Gefahr zu bringen. Doch der gnadenlose Gessler stellt ihn vor die Wahl, mit seinem Sohn zu sterben oder zu beweisen, dass er ein Meisterschütze ist. Dem Vater flimmert es vor Augen, als er zu dem Platz hinsieht, an dem sein Junge steht. Erst als Walter seinen Mentor mit der Reprise von Wenn du ein Ziel hast an sein Credo als Jäger erinnert, gelingt es Tell, mit einem konzentrierten Schuss, die Aufgabe zu erfülllen. Die Walenstädter Inszenierung von Nico Rabenald und Christoph Tölle stellt Walter auf eine überdimensionale Armbrust, die für die Schweizer bis heute das Symbol ihres Nationalhelden darstellt. Der ausgefahrene Pfeil ragt diagonal in den Himmel, dann geschieht unter Einsatz von Pyrotechnik und Rüdiger Benz‘ Lichtgestaltung die Verwandlung. Am Ende hält Walter triumphierend den von Tells Pfeil durchbohrten Apfel in die Höhe.

Die dritte bedeutende Frau im Stück ist Berta von Bruneck (Evelyn Suter), die sich auch dadurch auszeichnet, dass sie ganz der Gegensatz von ihrer Mutter ist. Frau von Bruneck wird von Cécile Gschwind bis an die Grenze des guten Geschmacks als schrille Adlige dargestellt, die gerne mal einen über den Durst trinkt, aber Bauern und Bürger verachtet, und Berta klar zu machen versucht, dass sie sich glücklich schätzen sollte, nicht zu denen zu gehören. Das sei doch kein

Foto: swiss-image.ch/Andy Mettler

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Zugleich ist ihr Titel Adlig zu sein neben Höfischer Tanz eine der wenigen Nummern, die es dem Choreographen und zweiten Regisseur Christopher Tölle ermöglichte, sie vertanzen zu lassen. Zugleich gibt diese mit den hellen Kleidern der Ensemble-Damen und dem Verhalten von Frau von Bruneck dem Standesdenken des Adels sehr gelungen Ausdruck. Eine weitere schön choreographierte Szene, die seitens der Bauern und Händler einen Blick auf das Zusammenleben mit dem Adel wirft, ist Wie schön: „Wie schön, wenn Sie gehen, wie schön, wenn Ihr Geld bei uns bleibt“.

Evelyn Suters Berta von Bruneck ist im Gegensatz zu ihrer Mutter eine junge Frau mit ausgeprägtem Empfinden für Recht und Unrecht, der Gesslers Verhalten zuwider ist, und die alles versucht, den jungen Ulrich von Rudenz (Samuel Tobias Klauser) zu überzeugen, sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen, während dieser zunächst an seinem Dienst für den König und Gessler festhält.

Evelyn Suter (alternierende Johanna in ‚Die Päpstin‘ 2011) berührt mit intensivem Spiel und ihrer warm timbrierten Mezzosopranstimme. Im ersten Akt hat sie das harmonische Liebesduett Keine Macht der Welt gemeinsam mit Samuel Tobias Klauser, im zweiten Akt beeindruckt ihre emotionale Interpretation von Einen Schritt zu weit, wenn sie Ulrich vor Augen führt, was für ein Mann Gessler ist, und dass er ihn nur ausnutzen wird.

Der junge Samuel Tobias Klauser überzeugt als Ulrich Rudenz mit liebenswerter Spielfreude und schöner Gesangsstimme. Was in ihm steckt, vermag er jedoch erst in seinem dramatischen Monolog Noch nicht zu spät zu zeigen, als Ulrich erkennt, dass es, trotz des Todes seines Onkels, Werner Freiherr Werner von Attinghausen, noch nicht zu spät ist, sich den Freiheitskämpfern seines Volkes anzuschließen.

Florian Schneider (Titelrolle in ‚Das Phantom der Oper‘), Schweizer Urgestein, spielt Werner Freiherr von Attinghausen, einen der alten Herrscher der Urschweiz. Mit seiner charakteristischen grandiosen Stimme, großer Bühnenpräsenz und inhaltlicher Überzeugungskraft verkörpert er den Motivator des neuen alten Bundes zwischen den Vertretern von Schwyz, Uri und Unterwalden (Wenn ihr nur einig seid), bis hin zum Burgenaufstand. Mit seiner beieindruckenden Rede wirkt er wie König Artus, der in Camelot die Ritter der Tafelrunde aufruft, für die gerechte Sache zu kämpfen.

Nicht zu vergessen ist Patric Scott, der eine interessante, nicht ganz leicht zu durchschauende Rolle spielt. Als Kontrolleur im Dienste seines Onkels, Albrechts I. von Habsburg, und Gast auf Gesslers Burg ist er auf seinen eigenen Machtgewinn aus und liebt — genau wie Gessler — Die Schönheit der Macht: Scott erweist sich in diesem Duett als kongenialer Sangespartner Grassinis. Der teuflische Kopf strebt selbst nach dem Thron des Habsburger Reiches, während ihn sein Onkel als „Johann ohne Land“ an kurzer Leine hält. Schließlich ermordet er ihn und ist als geächteter Königsmörder auf der Flucht.

Foto: swiss-image.ch/Andy Mettler

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Das Musical ‚Tell‘ endet damit, dass Johann Tell nach Gesslers Tod aufsucht, um ihn seinerseits zum Machtstreben zu verführen. Vergebens! Tell schwört sogar in seiner Gegenwart, keinen Menschen mehr zu töten und zerschlägt seine Armbrust. Unwillkürlich fragt man sich nach dem Sinn dieses Handelns: Geht es darum, die eine Armbrust zu zerschlagen, mit der er erst auf sein Kind anlegen und schließlich Gessler töten musste? Doch das hätte er längst tun können. Gewiss, Tell ist nicht stolz auf seine Tat, aber überzeugt, dass es richtig war, die Menschen, für die er verantwortlich ist, von dieser Gefahr zu befreien. Das hält er auch Johann entgegen, der seinen Onkel aus reiner Machtgier ermordete, und fordert ihn auf, Buße zu tun und nach Rom zu pilgern.

Viel besser ins Bild passt der Schluss: Als die erfolgreichen Aufständischen Tell als Initiator ihres Freiheitskampfes vereinnahmen wollen, zieht er mit seiner Familie auf seinem eigenen Weg gegen den Strom in der Hoffnung, endlich Frieden zu finden. Und doch, tönt es zum Abschluss von den Damen und den besonders starken Herren des „Tell“-Ensembles: „Erzählen wird man von dem Schützen Tell“, solange wie die Schweiz besteht. Das Finale endet mit einer Reprise des mitreißenden Rütlischwurs, die auch die großartige Leistung der 12 Musiker unter Leitung ihres musikalischen Leiters Andreas Felber abrundet. Gleichwohl wünscht man den klangvollen Kompositionen Marc Schubrings, welche die Geschichte tragen und vorwärtstreiben, eines der großen Staatstheaterorchester, damit das Ganze noch mehr Gewicht erhält.

Nach langer Zeit wieder ein dramatisches Epos, das berührt und mitnimmt, und in dem sich die Worte fügen, als ob sie dorthin gehören.

Barbara Kern