Die Figur langsam erspüren – Interview mit Wietske van Tongeren

Wietske van Tongeren spielt Betty Schaefer in der Bad Hersfelder Freilichterstaufführung von Lloyd Webbers ‚Sunset Boulevard‘ und steht während der Musicaltage des Stadttheaters Klagenfurt auch als Ellen in ‚Miss Saigon‘ auf der Bühne. Dem deutschsprachigen Musicalpublikum ist die gebürtige Niederländerin vor allem durch ihre Darstellungen der Titelrolle in ‚Elisabeth‘ und der ‚Ich‘ in ‚Rebecca‘ bekannt. Inmitten der grünen Umgebung der Stifstruine sprach die Künstlerin über die Audition zu ‚Sunset Boulevard‘, ihr Rollenprofil und ihre Offenheit für jede neue Herausforderung.

um: Wie haben Sie die Auditions für ‚Sunset Boulevard‘ erlebt?

Wietske van Tongeren. Foto: Christian Heredia

Wietske van Tongeren. Foto: Christian Heredia

WVT: Ich fand sie sehr angenehm, da wirklich mit den Leuten gearbeitet wurde. Wir hatten alle erst Einzelauditions, danach gab es eine gewisse Anzahl Frauen und Männer, aus denen Pärchen gebildet wurden. Ich war mit zwei Herren in der Audition und fand es toll, dass Gil Mehmert (Regisseur) immer gesagt hat: „Mach es mal weinerlich!“ oder „Überspiel es mal!“ Man erhält verschiedene Inputs, und genau das liebe ich. Mir hat gefallen, dass sofort eine Herausforderung da war. Es gab noch etwas Besonderes in diesen Tagen – für mich: Zum Schluss hatte ich Audition mit Rasmus Borkowski, und das war für uns beide — egal, was das Leading Team dabei empfand — eine tolle Arbeit. Wir kannten uns vorher nur flüchtig und haben uns hinterher noch gegenseitig angerufen mit: „Das war toll eben, egal ob wir jetzt den Job bekommen, es war einfach ein schöner Tag.“ Wir waren beide sehr offen und es hat uns viel Spaß gemacht.

um: Demnach war es eher wie eine Art Workshop, mit Erarbeiten von Szenen und Konstellationen?

WVT: Ja genau! Und das war sehr schön. Das hat man nicht so oft. Häufig gibt es Auditions, in denen man wenige Takte singt und dann hört man schon vom Team, ob die Stimme da ist und der Typ passt. Hier war mehr Ruhe da, man hat sich Zeit für den Einzelnen genommen. Das fand ich sehr angenehm.

um: Wie bereiten Sie sich auf eine Rolle vor und wie haben Sie sich speziell auf die Rolle der Betty Schaefer vorbereitet?

WVT: Ich muss ehrlich sagen, ich liebe Schwarzweiß-Filme sehr und mochte den Film ‚Sunset Boulevard‘ schon immer, da war ich mit dem Musical noch gar nicht vertraut. Ich kannte zwar die großen Lieder, aber das Stück hatte ich noch nie gesehen. Den Film habe ich zu Hause und schaue ihn jetzt während der Probenzeit öfter mal an, manche Szenen auch intensiver. Wie ich mich speziell vorbereite … außer dass ich die Materie kenne? Natürlich lerne ich meine Texte, denn als Ausländerin möchte man sich nicht vorwerfen lassen, dass man sie nicht gut beherrscht. Je schneller ich sie gelernt habe, um so besser kann ich dann noch daran arbeiten, dass die Sprache wirklich gut wird.

Ich habe meine musikalische Ausbildung am Konservatorium gemacht und da entwickelt man ohnehin den Ehrgeiz, nicht unvorbereitet zu sein, sondern möchte die Partitur beherrschen.
Trotzdem ist es für mich so, dass ich denke: Ich falle jetzt in diesen Swimmingpool hinein und versuche, wieder zu schwimmen – mit einem neuen Team. Darauf freue ich mich am meisten.

um: Ein Bild von der Figur direkt machen Sie sich vorher nicht?

WVT: Doch, ich mache mir schon ein Bild, aber kein so festes. Ich versuche eher, mich der Zeit zu nähern, in der meine Figur lebt. Wie auch bei ‚Miss Saigon‘ (Wietske van Tongeren spielt Ellen in der österreichischen Erstaufführung in Klagenfurt) schaut man sich Sachen aus der Epoche an. Dort haben wir uns besonders viele Dokumentationen angesehen, und natürlich beschäftigt man sich damit. Aber ich bin niemand, der sich vorher anschaut, wie andere die Rolle gespielt und gesungen haben. Gar nicht. Das würde mich nur unsicher machen.
Natürlich sehe ich diese Figur nicht wie ein Bauernmädchen … ich mache mir Gedanken, wie sie geht, wie würde sie stehen oder so etwas. Auch trage ich High-Heels bei den Proben, da ich dann einen ganz anderen Gang habe, als würde ich meine Sneakers tragen. Das sind schon Sachen, die ich mir überlege.

Aber mir persönlich ist es wichtiger, die Leute der Produktion kennenzulernen, den Regisseur, den musikalischen Leiter, meinen Spielpartner und die ganze Truppe, und zu schauen, was das für Menschen sind. Dadurch ergibt sich eine neue Energie, so dass du daraus langsam die Figur erspürst und die Geschichte erzählen möchtest.

Ich habe ja vorher viele adelige Rollen gespielt, und davon muss ich mich jetzt natürlich lösen. Ich hatte das auch häufiger schon bei ‚Miss Saigon‘, dass ich dachte: „Okay, Wietske, entspann deine Schultern, entspann deine Arme …“ Im Prinzip war da schon der Übergang, und ich musste mich von den adeligen Damen der Geschichte zu den 1970er Jahren hin orientieren.
Es ist auch schön, mal jugendliche Rollen zu spielen als immer eine Königin oder Kaiserin, das macht es abwechslungsreich (lacht).

um: Was ist für Sie der rote Faden der Geschichte?

In der Rolle von 'Betty Schaefer'. Foto: Sandra Reichel

In der Rolle von ‚Betty Schaefer‘. Foto: Sandra Reichel

WVT: Das Schöne ist der Kontrast zwischen der älteren und jüngeren Generation. Beide Generationen haben ihre Träume und Bettys Traum ist es, ein Drehbuch zu schreiben, anstatt immer nur alles im Archiv der Filmfirma zu lesen und auszuwerten. Sie möchte es selbst einmal versuchen. Das ist wie, wenn du immer hinter der Bühne arbeitest, und einmal selbst vor dem Vorhang stehen möchtest. Diesen Ehrgeiz kann ich total nachvollziehen. Doch dann trifft sie diesen Typen, der sie von ihrem sicheren Lebensweg abbringt.

Betty führt ein, für die damalige Zeit, selbstständiges Leben, da kommt dieser Mann und bringt alles durcheinander, weil sie merkt, dass er interessanter ist, als sie es wahrhaben möchte.
Und dass er dann auch noch Drehbuchautor ist, ihren Traumberuf hat, macht es natürlich noch schöner für die Geschichte. So können sie einander begegnen, und langsam baut sich zwischen ihr und Joe etwas auf. Ich denke, dass Betty wichtig für die Rolle des Joe Gillis ist, damit man sieht, was dieser Mann mit einer älteren Dame wie Norma macht, und was mit einer jungen.

Er steht zwischen ihnen, und Gil sagt immer, dass das junge Pärchen glaubhaft wirkt, denn bei einer älteren Frau und einem jungen Mann denkt sich das Publikum oft: „Was soll das?“ Doch es muss bei beiden der Reiz glaubhaft sein. Es muss verständlich sein, weshalb Joe Gillis diesen Weg geht, damit er nicht als „Arsch“ dasteht.

um: Was bei dieser Rolle besonders schwierig ist.

WVT: O ja, für die Rolle ist es schwierig, aber sie ist der Hammer. Ich finde Rasmus – schon allein vom Typ her, wenn ich ihn mir so anschaue (strahlt) – einfach super für die Rolle. Als Mensch bringt er viele Seiten mit, die ihm die Möglichkeit geben, sie zu erfüllen.

um: Wie verändert sich Betty Schaefer durch die Begegnung?

WVT: Am Anfang hat sie vor zu heiraten, und plötzlich ist sie bereit, alles aufzugeben. Ich glaube sicher, dass da eine Entwicklung da ist.

um: Diese letzte Szene zwischen Betty und Joe Gillis ist schon anrührend …

WVT: … sehr intensiv, und musikalisch super geschrieben. Ich dachte: „Wow, da kommen beide ganz aus sich heraus!“ Das finde ich toll.

um: Ist sie nicht fast ein bisschen kurz?

"Wir sind jetzt drei Monate hier zusammen, alle fort von zu Hause und basteln gemeinsam an einer Sache.". Foto: Sandra Reichel

„Wir sind jetzt drei Monate hier zusammen, alle fort von zu Hause und basteln gemeinsam an einer Sache.“. Foto: Sandra Reichel

WVT: Nein, nein, das finde ich gerade gut. Die Rolle der Betty kommt immer mal so flüchtig vorbei. Ich finde, eine Rolle sollte nur so groß sein, dass sie die Geschichte bedient und das ist hier genau richtig. Wir haben die Szene, von der wir sprechen, noch nicht geprobt … also mal sehen. Aber für mich fühlt sie sich ganz richtig an.

um: Wie oft waren Sie jetzt auf der Bühne und was ist das für ein Gefühl – in der Stiftsruine Bad Hersfeld zu spielen?

WVT: Genau dreieinhalb Tage. Das Ganze ist einfach umwerfend groß. Ich war vor drei Jahren schon einmal hier, als meine beste Freundin dort gespielt hat. Da fand ich die Kulisse einfach schon traumhaft. Und es ist schön, dass wir spätabends spielen. Ich dachte erst: „Warum fängt die Vorstellung erst um 21:00 Uhr an?“ Aber natürlich ist es dann dunkler, und das Licht hat einen besseren Effekt. Die Kulisse ist einfach super.

Natürlich müssen da auch Stücke gespielt werden, die die Stiftsruine bedienen können. Ich finde die Auswahl sehr gut. Open Air zu spielen, ist natürlich immer spannend, weil man es nie steuern kann. Man kann zwar alles inszenieren, aber es gibt immer den überraschenden Moment …

Bereits letztes Jahr in Tecklenburg habe ich gemerkt, welch besonderen Reiz das hat (schmunzelt). Wir sind jetzt drei Monate hier zusammen, alle fort von zu Hause und basteln gemeinsam an einer Sache. Es ist eine andere Atmosphäre als die Zeit, in der ich in Wien gearbeitet habe. Da war ich zu Hause, hatte den Wechsel zwischen Arbeit und daheim. Hier ist man wirklich nur auf die Arbeit konzentriert.

um: Dann ist das so wie eine Insel.

WVT: Deshalb ist es auch wichtig, dass wir alle gut miteinander können und die gleiche Arbeitseinstellung haben. Auf Holländisch sagt man: „Alle Nasen in einer Richtung haben“ (lacht), und das glaube ich, haben wir.

um: Wie gehen Sie mit Lampenfieber um?

WVT: Premieren sind furchtbar, bei Auditions bin ich nicht so aufgeregt, da ich die Einstellung habe: Ich komme mit „Nein“, ich kann auch mit einem „Nein“ wieder nach Hause gehen. Bei Premieren aber bin ich sehr aufgeregt und weiß nicht, warum. Ich habe bei ‚Miss Saigon‘ entschieden, dass mir das nicht mehr passiert (lacht). Dort ging es bis zur Hälfte gut und danach nicht mehr. Es macht deine eigene Authentizität kaputt, wenn du es zulässt, und ich finde das furchtbar.

um: Haben Sie Techniken dafür, das Lampenfieber nicht zuzulassen?

WVT: Ich versuche, einfach ruhig zu sein. Wenn ich zu Hause bin mache ich Bikram Yoga, womit ich mich auf mich selbst konzentrieren kann. Ich denke, ich bin schon ein sozialer Mensch, aber vor der Vorstellung bin ich niemand, der Späße macht, sondern brauche meinen eigenen Raum. Auch bei ‚Miss Saigon‘. wo ich immer erst nach vierzig Minuten auf die Bühne muss, schaue ich von der Seitenbühne aus zu, da ich die Atmosphäre des Stückes brauche. Ich muss wissen, an welcher Stelle ich einsteige: Wer sind die Kollegen heute, was haben wir heute für eine Energie auf der Bühne? Das mache ich, um mich vorzubereiten, aber Techniken habe ich keine. Es ist mir sogar schon passiert, dass ich fast ein Jahr lang ein Stück gespielt habe und plötzlich dachte, dass ich es nicht mehr kann – total fehl besetzt bin (lacht), das gehört eben auch dazu. Dann rennt man wieder zum Schauspiel- und Gesangsunterricht und denkt, dass man den falschen Beruf gewählt hat. Ich bin aber niemand, der sich dadurch verrückt machen lässt. Trotzdem habe ich vor Premieren immer Respekt.

In der zweiten Show ist es dann wieder vorbei und hängt auch davon ab, wer im Publikum sitzt. Wenn meine beste Freundin kommt, oder auch zwei gute Kollegen und Freunde, dann möchte ich es lieber nicht wissen. Dann bin ich aufgeregter als sonst, keine Ahnung weshalb. Bei meiner Familie ist es mir egal, sogar bei meinem Gesangslehrer, aber bei diesen speziellen Freunden nicht. Da denke ich dann: Setzt Euch einfach in die Show und sagt mir erst danach, dass Ihr da wart (lacht).

um: Sie haben schon gesagt, wie wichtig es ist, dass die Zusammenarbeit mit den Kollegen klappt. Wir würden Sie die Arbeit mit Gil Mehmert charakterisieren? Wie arbeitet er mit den Darstellern?

WVT: Ich finde es sehr angenehm, dass Gil sehr zielgerichtet und klar ist. Damit kann ich besonders gut umgehen.

Ich habe schon ganz andere Arbeitsweisen erlebt. Am Anfang meiner Laufbahn habe ich mal eine Produktion gemacht, in der der Regisseur die ganze Zeit geschrien hat. Sicher würde ich damit heute anders umgehen. Früher war ich sehr eingeschüchtert, obwohl es natürlich nicht die ganze Zeit um mich ging, sondern auch ums Licht und so etwas. Heute würde ich denjenigen zur Seite nehmen und sagen: „Wenn Du ein Problem hast, rede mit mir darüber.“ Damals war ich zu jung.

Diese Erfahrungen muss man aber auch sammeln. Heute bin ich vielleicht auch offener und steige schneller ein. Dann kann auch eine bessere Arbeitsatmosphäre entstehen, weil du dich auf die Menschen aus deinem beruflichen Umfeld mehr einlässt. Früher war ich da viel ängstlicher.

Ich habe auch einige große Produktionen gemacht, wo die Aufmerksamkeit sich sofort auf das Bühnenbild oder das Licht richtet, dann fühlst du dich manchmal als Darsteller allein gelassen und denkst, dass du verloren gehst.
Hier habe ich dieses Gefühl trotz der großen Bühne gar nicht. Auch musikalisch sind wir hier sehr gut vorbereitet, ich habe das Gefühl, alle bleiben dran und sind immer dabei.
Sicher finde ich es auch schön, wenn es eine aufwändige Kulisse gibt, aber für mein Schauspielerherz ist vor allem diese intensive Arbeit wichtig und trifft mehr meinen Geschmack. Auch die Arbeitsatmosphäre kommt mir näher.

Vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen weiterhin eine angenehme Probenarbeit und freuen uns auf eine erfolgreiche Premiere!

Das Interview führten Barbara Kern und Sandra Reichel