Mit Emotionen arbeiten – Carsten Lepper im Interview zu seiner Rolle als Chris in »Miss Saigon« in Klagenfurt

Carsten Lepper spielt in der österreichischen Erstaufführung von ‚Miss Saigon‘ am Stadttheater Klagenfurt den ‚Chris‘. Wir sprachen mit dem Künstler über die schauspielerischen und gesanglichen Besonderheiten der Rolle, die Zusammenarbeit mit Kollegen sowie Regisseur und seine Workshoparbeit mit dem Musicalnachwuchs.

Foto: Christian Heredia / chrisphotographics.com

Foto: Christian Heredia / chrisphotographics.com

um: Nach dem Tony in ‚West Side Story‘ ist Chris in ‚Miss Saigon‘ eine weitere auch gesanglich anspruchsvolle Rolle.

CL: Wie der ‚Tony‘ ist ‚Chris‘ eine Rolle, wo man nicht pfuschen kann, sondern mit seinem Material, seiner Stimme haushalten muss. Natürlich kann oder muss man es, wenn man mal lädiert ist … das merkst du dann aber sofort im Publikum, wenn es emotional nicht stimmig ist. Es mag übertrieben klingen, aber es ist so – wenn auch unbewusst großteils natürlich – der Zuschauer wendet sich ab. Und bei Tony und Chris darfst du nie den Zuschauer vergessen, sondern musst ihn immer mitnehmen, die ganze Zeit.

Dazu braucht man auch einen guten Dirigenten, der dem Sänger hilft und das Orchester voran bringt. Ich bin auch wahnsinnig stolz darauf, sagen zu können, so ein tolles großes Orchester hatte London und Stuttgart nicht. Da waren es 24 oder 25 und hier sind es 42 Musiker. Das ist das riesige Plus eines Stadttheaters.

Auch das Bühnenbild steht Stuttgart oder London in nichts nach. Brauchst Du einen Hubschrauber? Nein, Du brauchst die Assoziation eines solchen: hier kommt Geräusch vom Propeller von hinten, es wird Zeug auf die Bühne geworfen, das herumflirrt, so als ob etwas aufwirbelt. Ich finde das vom Effekt sehr gelungen und vereinfacht. Was ich besonders grandios am Bühnenbild finde, es bleibt Platz für Phantasie. Es gibt kein schnelles Hinein- und Herausfahren eines Raumes beispielsweise mit Chris und Kim oder mit Chris und Ellen, wo der Raum auf der Größe der Bühne fast verschwindet.

Bitte mich nicht misszuverstehen — die Originalinszenierung gefällt mir sehr, aber das war vor mehr als 20 Jahren. Und nun haben wir hier eine zeitgemässe Variation von MISS SAIGON.

um: Das Bühnenbild lässt viel Raum, weil es begehbar ist.

CL: Es gibt Raum für Kreativität, und ich fühle mich nie erschlagen von diesem Bühnenbild – so abstrakt es auch ist. Das ist ganz anders beispielsweise als beim Originalbühnenbild von ‚Sunset Boulevard‘, wo ich mich gefragt habe: „Wo ist der Darsteller?“ Da schaut man erst einmal die ganzen Leuchtketten an und vergisst die Personen. Wobei ich glaube, dass man das auch bei ‚Sunset Boulevard‘ nicht braucht, damit das Stück funktioniert.

Ich finde unser Bühnenbild hier geschmackvoll – so habe ich es auch dem Bühnenbildner gesagt. Es hat etwas zu bedeuten. Mein Vater sagte beispielsweise: „War das jetzt ein Schiffswrack?“ Jemand anderes sah darin einen abgestürzten Hubschrauber. Jeder sieht ein bisschen etwas anderes in der Konstruktion. Und dann kommt die Szene vor der Pause „Boatpeople“, und das Ganze ist auf einmal ein Schiff. Das finde ich wahnsinnig toll.

um: Da ist dann diese Rampe mit dem Sonnensymbol, das Hoffnung zu verheißen scheint …

CL: … und die Musik geht genau dagegen. Sie ist überhaupt nicht hoffnungsvoll, fast ein bisschen grob.

um: Bei einem frühen Interview hat Regisseur Matthias Davids ganz deutlich gesagt, dass es keinen Hubschrauber wie in der Originalinszenierung gibt und trotzdem wurde immer wieder danach gefragt.

CL: Das ist wie mit dem Kronleuchter beim ‚Phantom der Oper‘. Man verbindet mit ‚Miss Saigon‘ den Hubschrauber – das war damals eben die Sensation. Letztendlich haben wir einen Hubschrauber, nur ist er nicht aus Pappmaschee.

Bei uns ist er im Kopf da, und das zählt. Man hört ihn, die Seile werden herabgelassen und wir werden hochgezogen. Übrigens besonders schön ist das nicht für mich, da ich Höhenangst habe (lacht). Und ich muss die ganze Zeit nach unten schauen, bis mich die erste Reihe nicht mehr sieht, von da ab sehe ich nur noch hoch! Wir fahren bis zum Schnürboden.

Bei Matthias habe ich immer solche Aufgaben (lacht), irgendwohin zu steigen; das war bei ‚Martin L.‘ in Erfurt genauso. Da gab es diese großen Nägel. Es war ein tolles Bühnenbild, aber ich musste in einem dieser Nägel innen hochklettern. Alles ist schwarz und ich sehe nichts. Oben ist dann Licht und das Erste, was man sieht, ist ganz Erfurt, das 20 Meter unter einem liegt. Ich habe mich dann einfach festgehalten und gesungen. Innerlich habe ich mir immer wieder gesagt: „Du schaust jetzt nicht aufs Publikum, sondern über die Leute hinweg.“ Ich glaube, wenn ich noch ein paar Mal mit Matthias arbeite, verliere ich meine Höhenangst noch ganz — es ist nämlich erstaunlicherweise besser geworden. (lacht)

um: Wie haben Sie sich die Rolle bei den Proben erarbeitet und welche Freiheiten hatten Sie dabei?

Foto: Helge Bauer

Foto: Helge Bauer

CL: Matthias Davids hatte schon einen klare Vorstellung von dem Charakter des Chris, wie er ihn sich vorstellt. Er hat nicht den coolen Macho gesehen, diesen Klischee-Soldaten. Ich musste erst einmal verstehen, was der Regisseur will. Das hat einige Zeit gedauert, weil meine Gedanken erst in eine andere Richtung gingen. Das ist ganz normal. Innerhalb seiner Idee hatte ich große Freiheit, mich auszuprobieren. Matthias ist niemand, der einem vorschreibt: „Mach den und den Gang.“ Wenn ich mal gemerkt habe, dass irgend etwas nicht stimmt, ich nicht wusste, in welche Richtung der Impuls, den ich fühle, geht, hat er mir geholfen. So hat er z.B. bei ‚Mein Gott, warum‘ gesagt: „Nimm den Impuls, als ob du dich weiter anziehen willst.“ Dann habe ich den Impuls genommen und ihn weitergedacht: Geh zum Hemd, wende dich von ihr ab. Das Lied beinhaltet Zuwendung – Abwendung – Zuwendung – Abwendung. Erst ganz zum Schluss des langen Titels entscheidet er sich: „Okay, ich lass mich darauf ein.“

Nicht nur ich, sondern wir alle hatten die große Freiheit, alles auszuprobieren, auch wenn sich dann herausgestellt hat, dass es nicht funktioniert. Matthias mit seiner Erfahrung hat das bestimmt häufig vorausgesehen, aber er lässt es den Darsteller selbst erfahren, weil dieser ja überzeugt sein muss, von dem, was er tut.

Manchmal hatte ich auch eine Idee, von der er erst nicht überzeugt war, aber dann sah, dass sie funktioniert. Es war ein Geben und Nehmen, wie es idealerweise ist, und das, was ich eine wirkliche Zusammenarbeit nenne. Und ich muss ehrlich sagen: „Hut ab vor dieser Intelligenz!“ Matthias ist ein hochintelligenter Regisseur. Geographisch kommen wir ja aus der gleichen Ecke. Er kommt aus Münster, ich aus dem Münsterland. Wir haben den gleichen Humor. Da folgt schon mal Spitze auf Spitze im gegenseitigen Umgang, aber jeder weiß, wie es gemeint ist. Ich habe bei dieser Produktion – denke ich – erst so richtig verstanden, wie er arbeitet. In Erfurt war mir das noch nicht so ganz klar. Und vor allen Dingen: Wir haben so viel gelacht – das tut so gut!

Matthias erklärt mir die Szene und gibt dir auch Antwort darauf, wo man in diesen vielen Szenenwechseln des Stückes gerade ist. Ich habe ihn beispielsweise zum ‚Albtraum‘ sehr ausgefragt, dieser Hubschrauberszene. Ich verstand das nicht und fragte: „Ist das jetzt ein wirklicher Albtraum, den Kim erlebt, oder ist das gerade ein Tagtraum, den sie hat. Schläft sie oder wacht sie?“ Es kann so und so sein.

um: Hier sieht es so aus, als ob Altes auf sie einstürzt als Tagtraum.

CL: Richtig. Und so soll es sein. In Stuttgart war es eher ein Traum von etwas, das nicht stattgefunden hat. Jetzt hier kommt als Tagtraum zurück, was wirklich einmal stattgefunden hat.

um: Weshalb lacht das Publikum, nachdem Kim Thuy erschossen hat?

CL: Das ist das Erschrecken und rein aus schauspielerischer Sicht ein völlig normaler Effekt. Am Ende, wenn Kim sich erschießt, ist das dann nicht mehr ein so großer Effekt. Da löst sich dann nur noch der Druck des Schrecks vom Knall.

um: Was ist besonders charakteristisch an Matthias Davids Arbeit mit den Darstellern?

Foto: Frank Mura

Foto: Frank Mura

CL: Wenn Matthias eine Szene erklärt hat, erwartet er, dass du dich erst einmal ganz in diese Szene wirfst. Ein Schauspieler mit unbegrenzter Freiheit … das ist furchtbar und zugleich so gut. Du gehst an deine Grenzen, machst auch mal großen Mist. Das hat ganz viel mit dem Überwinden von Hemmungen zu tun. Du testest deine Grenzen aus. Dann sagt er: „Das war ganz gut, da geh jetzt mal weiter.“ Er nimmt alles von dir an, um dann zu sagen: „Jetzt setzen wir das Puzzle mal gemeinsam zusammen.“ Was ich jetzt in drei Sätzen beschrieben habe, ist natürlich ein Prozess von Wochen.

Wie oft haben wir ‚Mein Gott, warum‘ gemacht, so dass ich es irgendwann nicht mehr hören konnte. Genau dann, wenn du es nicht mehr hören kannst, geschehen die authentischen Momente. So habe ich es jedenfalls jetzt bei dieser Szene erlebt. Ich mag das Lied an sich sehr und singe es sehr gern. Für mich ist die Szene nur irgendwie zu lang, weshalb ich am Anfang nicht verstanden habe, wohin die Szene geht, was sich noch entwickelt. Das Ziel ist ja, dass die beiden dann zusammen schlafen. In der Originalinszenierung gibt es dann einen Blackout, Licht geht wieder an, er steht am Fenster und raucht. Das wollte Matthias nicht. Wichtig ist, dass jeder versteht, die ziehen sich aus und gehen miteinander ins Bett. Dann entscheidet er, alleine zu gehen. Er zieht sich an, legt das Geld hin und will gehen. Nach der Up tempo-Nummer ist ihm klar, es ist etwas geschehen. Deshalb kehrt er zurück zu ihr. Ich mag die Szene mittlerweile gern, auch ‚Sonne und Mond‘, das gehört ja irgendwie zusammen.

Aber wie emotional Matthias arbeitet, habe ich am intensivsten in der Endszene und im Hotelzimmer erlebt. Die Schlussszene haben wir extrem oft geprobt, aber für mich persönlich noch wichtiger ist die Hotelzimmerszene. Da war die Frage: Wie weit lässt sich Chris im Hotelzimmer emotional ein. Wenn er Ellen sagt: „Okay, ich erzähle Dir jetzt, wie es war.“, wird es sehr emotional und du musst dich als Darsteller wirklich einbringen. Da vergisst du alles um dich herum.

um: Wie gefährlich ist das, alles um sich herum zu vergessen?

Ellen (Wietske van Tongeren) und Chris (Carsten Lepper) im Hotelzimmer - ein emotionaler Moment Foto: Helge Bauer

Ellen (Wietske van Tongeren) und Chris (Carsten Lepper) im Hotelzimmer – ein emotionaler Moment
Foto: Helge Bauer

CL: Wenn man folgerichtig denkt, die passenden Bilder hat, denen man folgt, ist es nicht gefährlich. Wenn du die richtigen Bilder nicht herstellst und die Emotionen nicht kommen, kommt einfach nichts rüber. Und wirklich verlieren darf ich mich natürlich nicht, denn dann verliere ich auch das Taktmaß, aber was ich meine, du kannst dich fallen lassen. Die Musik ist so gut geschrieben, dass du loslassen kannst.

Ich liebe dieses Szene. Sie ist eine der liebsten Szenen, die ich in meiner Laufbahn bisher gespielt habe. Diese Hotelzimmerszene bedeutet mir persönlich in diesem Stück am meisten, da sich hier Chris das erste Mal komplett öffnet. Es gibt Ansätze dazu im Badezimmer, aber er zieht sich dann erst mal wieder zurück, sucht nur einen Moment Ellens Nähe, wendet sich dann aber kurz darauf wieder von ihr ab.

Bei der Vorbereitung auf die Szene bin ich schon in Ellens Lied, während ich auf meinen Auftritt warte. Dabei konzentriere ich mich ganz stark auf diesen Moment. Ich versuche ganz im Jetzt zu sein, in den Emotionen des Augenblicks und nicht an das, was kommt zu denken. Sondern versuche, alles neu zu nehmen, auch Sachen neu zu entdecken, die tatsächlich neu sind. Das ist ja jeden Tag anders. Mal hängt der Vorhang schief, mal gerade. Heute war so ein Bambus-Element umgefallen. Das ist so meine persönliche Art, ins Jetzt zu kommen.

ABER: Du bist nur so gut wie dein Partner. Ich spiele unglaublich gern mit Wietske van Tongeren zusammen. Wir haben irgendwie die gleiche Wellenlänge. Ich brauche sie nur anzuschauen und weiß sofort: „Okay, heute funktioniert es gut.“ und umgekehrt. Wir haben neulich überlegt, dass es schon das vierte Mal ist, dass wir zusammen spielen – bei ‚Elisabeth‘, ‚Into the Woods‘, ‚Rebecca‘ und jetzt hier. Im Lauf der Jahre verändert man sich ja auch. Man wird etwas ruhiger — ich will nicht sagen „erwachsener“, ich hasse dieses Wort — aber du wirst weicher, wenn du es zulässt. Es gibt auch Leute, die das nicht tun, diese verhärten. Bei mir ist das nicht so, und das hat natürlich auch viel mit Privatleben zu tun und den Erfahrungen, die man im Theater gemacht hat. Und da haben Wietske und ich einen ähnlichen Weg, sie natürlich ihren und ich meinen, aber doch ähnlich.

um: Wie ist das Zusammenspielen mit Kun Jing, der jungen Darstellerin der Kim?

Kim (Kun Jing) und Chris (Carsten Lepper) Sonne und Mond Foto: Helge Bauer

Kim (Kun Jing) und Chris (Carsten Lepper)
Sonne und Mond
Foto: Helge Bauer

CL: Sehr schön, und wir verstehen uns auch privat sehr gut. Es ist ihre erste Rolle, sie kommt frisch vom Konservatorium in Wien. Ich habe natürlich gemerkt, dass sie Anfängerin ist und es war toll, dass ich ihr auch – so vorsichtig, wie man das einem Kollegen sagen kann – sagen durfte: „Kannst Du das vielleicht so spielen, weil sonst kann ich dir nicht so antworten, wie Matthias das möchte, und wie der Charakter der Rolle das verlangt.“ Das ist für sie überhaupt kein Thema gewesen. Umgekehrt sagt sie mir auch, wenn sie Probleme hat. Neulich hat sie gesagt: „Du hast da heute was Komisches gespielt, das war für mich schwierig.“ Dann habe ich darüber nachgedacht und mich überprüft. Manches passiert einem ja ganz unbewusst. Es ist eine tolle Arbeit. Eine wunderbare Kollegin!

um: Was macht man, wenn sich während der Proben herauskristallisiert, die Chemie stimmt nicht?

CL: Das merkt man schnell. Irgendwie geht es immer. Dann macht man halt den Job, konzentriert sich auf die Szene. Du hast einen Untertext und ziehst es durch. Die Kunst ist dann, den Zuschauer nicht merken zu lassen, was los ist.

um: Was war gesanglich vielleicht die größte Herausforderung für Sie in ‚Miss Saigon‘?

CL: Am längsten habe ich musikalisch für ‚Die letzte Nacht der Welt‘ gebraucht, nicht für ‚Mein Gott, warum‘. ‚Last Night of the World‘ ist für einen Tenor sehr schwierig zu singen, da es die ganze Zeit komplett auf deinem Registerbruch liegt – da habe ich hart arbeiten müssen!

um: ‚Miss Saigon‘ ist eine österreichische Erstaufführung. Trauen wir uns in Deutschland nicht an dramatische Stücke?

CL: Nein, das glaube ich nicht. Man darf eins nicht vergessen. Auch die Schweiz und Österreich müssen mit Sparmaßnamen leben, aber in Deutschland sind diese extrem hoch. Und wir leben in einem Land, indem es noch mehr Arbeitslose gibt als in Österreich oder der Schweiz. So ein Stück kostet Geld. Du hast so viele Gäste, weil du die Rollen nicht aus dem Haus besetzen kannst – außer den Chor. Wenn du Glück hast, hast du vielleicht noch einen Chris im Ensemble, aber eine Kim kaum und wahrscheinlich auch keinen Engineer.

um: Könnten Sie sich vorstellen, bei einer Show wie die ‚Musical Tenors‘ dabei zu sein?

CL: Natürlich könnte ich mir das vorstellen, aber ich wurde ja nie gefragt (lacht). Ich finde die Idee von Andreas Luketa gut, mal etwas ganz anderes auf die Beine zu stellen, etwas Neues zu machen ganz toll.

um: Wenn Sie selbst Workshops geben, was ist Ihnen besonders wichtig, dem Nachwuchs zu vermitteln?

CL: Ich hatte gerade wieder einen. Das war ein schwieriger Kurs und richtig Arbeit. Bei meinen Workshops kommen angehende Profis, die kurz vor Ende der Ausbildung stehen oder schon fertig sind. Aber es sind eben auch mal Amateure dabei.

Es gibt gute Amateure, denen ich dann vielleicht einen neuen Weg zeige, wie sie authentischer werden können. Nach einem Tag sind sie häufig total verwirrt, weil das für sie eine ganz neue Art der Herangehensweise ist. Am zweiten Tag setzt sich das dann schon.

um: Ihr Workshopangebot schafft aber auch diese Offenheit, Sie könnten es ja enger fassen und beispielsweise keine Amateure zulassen.

"Ich möchte erreichen, dass meine Studenten und Schüler eine Sensibilität für die Situation, für den Moment bekommen." Foto: Christian Heredia / chrisphotographics.com

„Ich möchte erreichen, dass meine Studenten und Schüler eine Sensibilität für die Situation, für den Moment bekommen.“
Foto: Christian Heredia / chrisphotographics.com

CL: Ja, richtig, aber ich selbst war lange Amateur und wollte möglichst viel lernen. Deshalb trenne ich ganz bewusst nicht Amateure von Profis oder angehenden Profis, da beide voneinander lernen können – auch die Profis von den Amateuren. Amateure gehen häufig viel unverstellter an die Arbeit heran. Die Profis haben meist schon ihre Vorstellung, wie sie ein Lied oder eine Szene anfassen, meist, weil sie es so gelernt haben. Dadurch, dass die Amateure unbedarfter an Aufgaben herangehen, entsteht oftmals eine große Lebendigkeit, die der Profi manchmal nicht mehr so hat. Wenn wir in einer Szene improvisieren, lasse ich häufig dann einen angehenden Profi mit einem Amateur zusammenarbeiten. Wenn du sie eine Weile spielen lässt, merkst du, wie sich beide auf eine gleiche Ebene begeben. Auf dieser neuen Ebene gibt es die Trennung zwischen Profi und Amateur nicht mehr. Aber dafür musst ich natürlich erst einmal eine Offenheit schaffen – auf beiden Seiten. Der Amateur hat keine Erfahrung, der Profi weiß meist, von was ich spreche, hat aber manchmal im Laufe der Ausbildung die Offenheit verloren.

Ich möchte erreichen, dass meine Studenten und Schüler eine Sensibilität für die Situation, für den Moment bekommen. Denn das ist immer neu. Für mich gibt es kein: „So muss man Theater spielen“, und auch kein „die Technik“ oder „das bestimmte Handwerk“. Was wir spielen, sind ja wir – wir in einer Figur.

Am ersten Tag mache ich mit jedem Einzelunterricht, aber alle anderen schauen natürlich zu. Witzigerweise hatte ich an diesem Wochenende eine Abgängerin von der Stage School, die ‚Ich kam und sah sie‘, Ellens, also Wietskes Lied sang. Da war es unheimlich spannend zu beobachten, wie sie an das Lied heranging. Ich hatte ja bei Wietske die Erarbeitung mitbekommen. Die Studentin war eine völlig andere Frau. Ich habe versucht, sie zu öffnen, damit sie noch mehr von sich in das Lied hinein nimmt. Es wurde immer persönlicher – und das ist genau die Arbeitsweise, die ich den Leuten vermitteln möchte.

Das erste, was ich immer sage, ist: Es ist kein Workshop im herkömmlichen Sinne. Es geht mir nicht darum, Fertigkeiten sehen. Ich möchte einfach erreichen, dass die Teilnehmer offener werden, lernen, sich mehr einzubringen. 60 bis 70 % der Leute kommen immer wieder zu den gleichen Kursen. Ich verstehe nicht, dass viele sagen, so etwas gäbe es sonst nicht in Deutschland. Bei anderen Workshops macht man – wie mir gesagt wurde – fünf Minuten Zack-Zack, dann wird ein bisschen versucht mit: Ja komm mal von da, nein von da, guck nach Links, guck nach Rechts und dann fertig – Nächster.

Davon hat man als angehender Künstler überhaupt nichts. Dann kannst du genau so gut zu einem Regisseur gehen und ihn bitten, dir die Szene durchzu-stagen. Das hat seine Berechtigung, wenn du es möchtest, aber das hat nichts mit emotionaler Arbeit, mit Einfühlen in die Szene zu tun.

Was ganz toll ist, und da freue ich mich immer besonders bei den „Wiederholungstätern“ – die haben das, was mir wichtig ist, irgendwann begriffen, meist nach zwei Kursen. Beim ersten Kurs macht man die tollen neuen Erfahrungen. Dann gehen alle nach Hause und sind glücklich, aber dann machen sie meist nichts mehr. Und wenn du ein Talent brach liegen lässt, verkümmert es. Dann kommen sie wieder und fangen von 0 an. Dann schimpfe ich (lacht). Wenn sie jetzt wieder kommen, merke ich, sie arbeiten. Wenn sie dann zum dritten Mal wiederkommen, sind sie unheimlich gut vorbereitet, sie wissen über das Stück Bescheid. Sie wissen, woher sie kommen, sie wissen, wohin sie gehen mit der Figur. Auf einmal haben sie das verinnerlicht – den „Theoriekram“. Dann kannst du auch mit ihnen in der Rolle diskutieren. Dann frage ich: „Du als Ellen, liebst du Chris überhaupt?“ Dann versucht sie, in der Rolle zu antworten. Dieses Spiel geht hin und her, das ist ganz toll. Das merkt dann auch die Gruppe – alle werden ganz nervös, weil sich da etwas ereignet. Du denkst plötzlich, da sitzt wirklich eine, die Ellen ist, und die jetzt gerade über ihren Mann spricht oder über diese andere Frau, Kim. Plötzlich wirkt das so echt. Natürlich ist es gespielt, aber es wirkt authentisch – und darum geht es ja.

um: Sie kommen ja vom Schauspiel. Legen Sie auch deshalb so viel Wert auf diesen Schwerpunkt bei Ihrer Lehre?

CL: Singen können wir doch alle und tanzen auch (lacht). Ich meine, das kann man lernen – das sind Fertigkeiten. Der eine besser, der andere etwas schlechter. Emotionalität erreichen wir nur durch das Schauspiel. Das ist für mich der Grundstein von allem. Schauspiel bedeutet, mit Emotionen arbeiten, mit sich arbeiten, und nicht einfach, Fertigkeiten nach außen zu tragen. Diese sind natürlich gut und wichtig. Aber beim Schauspiel merkst du sofort, wenn du ins Theater gehst und dir mal Kollegen anschaust, wo sich Spreu vom Weizen trennt.

Mir ist etwas aufgefallen: Wenn ein Sänger nicht besonders gut singt, entweder, weil er nicht gut bei Stimme ist, oder einfach nicht so das stimmliche Talent hat, wie jemand anderer – wenn er schauspielerisch so richtig gut ist, kann ich das vergessen.

um: Gibt es Rollen, die Sie besonders geprägt haben und die sie vielleicht gerne noch einmal spielen würden?

    "Lucheni und Chris sind im Augenblick die Parts, bei denen ich mich in die Figur verliebt habe." Foto: Frank Mura

„Lucheni und Chris sind im Augenblick die Parts, bei denen ich mich in die Figur verliebt habe.“
Foto: Frank Mura

CL: Das ist sicher der Lucheni. Es ist die einzige Rolle, die ich immer wieder gerne spiele. Sie ist – ähnlich wie der Tod – altersunabhängig, so lange man körperlich und geistig beweglich bleibt (lacht).

Das ist einfach eine super spannende Figur mit vielen Facetten, wenn ein Regisseur entsprechend arbeitet.

‚Kitsch‘ ist eine der schwersten Nummern. Das Publikum kommt vom Essen und Trinken aus der Pause und du musst mit diesem Titel ihre Aufmerksamkeit gewinnen und ihnen wichtige Informationen vermitteln. Sonst verstehen die Zuschauer den zweiten Akt nicht. Sie wissen ja nicht, was inzwischen passiert ist, mit Ungarn usw. Du hast kein Bühnenbild, den Bauchladen gibst du irgendwann ab – du hast nichts.

Beim Lucheni liegt die Schwierigkeit der Rolle in der Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und Zynismus. Denn Zynismus ist auch ein Teil Ernsthaftigkeit, aber auch scharfe Ironie. Die Figur muss wahnsinnig viel Informationen herüberbringen, sie hat mehr Text als der Tod. Und es ist ja auch Luchenis Geschichte, das darf man nicht vergessen. Als Darsteller musst du dem Zuschauer das Gefühl geben, dass du die wichtigste Person hier bist. Wie kann man das? Das schaffst du nicht mit dem Holzhammer, dann hört dir keiner mehr zu, sondern alle wenden sich genervt ab. Mit Gewalt bekommst du das Publikum nicht. Das Publikum kannst du mit Charme bekommen, mit Ironie und Zynismus. Wenn du die Zuschauer hast, dann kannst mal gemein werden: „Verzieht nicht das Gesicht, tut bloß nicht so, als seid ihr an der Wahrheit interessiert.“

Ich liebe diese Rolle. Lucheni und Chris sind im Augenblick die Parts, bei denen ich mich in die Figur verliebt habe. Beide Figuren sind nachvollziehbar in ihrem Handeln und Denken. Ich habe intensive Recherche betrieben für den Lucheni. Bevor ich das gespielt habe, bin ich nach Genf gereist und hab‘ mir diese Schauplätze angeschaut. Es ist nicht mehr viel wie früher, allenfalls das Hotel Beaux Rivage, wo Elisabeth gewohnt hat, steht noch. Ich wollte das Gefühl dafür bekommen, wie das damals war. Ich bin nachts um vier Uhr aufgestanden. Und dann bin ich durch die Straßen, die er in seinem Buch beschreibt, gegangen. Ich wollte wissen, wie die Stimmung ist.

In einer für mich neuen Inszenierung würde ich Lucheni sehr gern noch einmal spielen, damit ich neu herangehen kann an die Figur. Mal schauen, was passiert.

um: Was sind die nächsten Pläne, falls Sie schon drüber sprechen dürfen?

CL: Das ist die Rolle des Tony in der ‚West Side Story‘. Das macht das Stadttheater Trier, aber nicht im Theater selbst, sondern in einer besonderen Location, einer Fabrikhalle. Für mich passt es wahnsinnig gut. Die Vorproben sind im Mai, Juni, dann habe ich im Juli , das erste Mal seit vier Jahren mal drei Wochen wirklich Urlaub. Danach haben ich die dreieinhalb Wochen hier bei ‚Miss Saigon‘ und dann fünf Tage, um mich umzugewöhnen. Dann kommen die letzten Proben in Trier und 10 Tage bis zur Premiere.

Vielen Dank für das kurzweilige Interview und die spannenden und anschaulichen Einblicke in Ihre Arbeitsweise als Schauspieler und Mentor.

Das Interview führten Barbara Kern und Birgit Bernds