»Komik und Tragik liegen dicht beieinander«

Andreas Gergen zu 'Dällebach Kari'

Andreas Gergen (‚West Side Story‘ / Magdeburg, ‚Der Graf von Monte Christo‘ /St. Gallen), inszeniert für die Thuner Seespiele das Schweizer Musical ‚Dällebach Kari‘. Im Vorfeld der Uraufführung sprach Andreas Gergen über die Entwicklung des ersten eigenen Schweizer Musicals der Thuner Seespiele, eine tragisch-komische allgemein menschliche Geschichte und seine Aufgabe als Regisseur.

Andreas Gergen - Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

Andreas Gergen – Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

MC24: Wie gut ist Ihr Schweizerdeutsch – genauer Berndeutsch?

AG: (lacht) Es wird immer besser. Mittlerweile verstehe ich es nicht nur, sondern kann mich auch mit dem Ensemble in Schweizerdeutsch unterhalten, vor allem im Scherz. Natürlich auch, weil ich mich schon lange Zeit mit dem Stück beschäftigt habe. Den Text von Dällebach Kari verstehe ich ohnehin, da gibt es eine zweisprachige Ausgabe – Schweizerdeutsch/Deutsch (grinst).

Berndeutsch ist ja wieder etwas anderes als Schweizerdeutsch. Unsere Kollegen, die nicht aus Bern sind, mussten den regionalen Dialekt auch erst lernen. Wir haben einen Dialekt-Coach (Matthias Blum), der sowohl mir als auch den Darstellern geholfen hat, ihn zu sprechen und zu verstehen. Das ging ganz prima.

MC24: Wie gut verständlich wird die Aufführung für jemanden sein, der kein Schweizer ist?

AG: Wir hatten bereits einige Bekannte in der Testaufführung, die aus dem deutschen Raum kommen. Ihnen hat das Stück sehr gut gefallen und die Emotionen kommen herüber. Das Ganze ist ja ein Stück, das zwar um eine komische Figur geht – Dällebach Kari ist ja bekannt geworden mit seinen Witzen, die er gerissen hat – aber es steckt auch sehr viel Dramatik im Stück. Hier sind bei denen, die des Dialektes nicht mächtig sind, auch die Tränen geflossen.

MC24: Wer ist Dällebach Kari?

AG: Dällebach Kari ist ein Berner Stadt-Original, über den es bis heute Witze gibt. Jedes Kind wächst mit den Dällebach-Witzen auf. Doch die Figur hat auch eine dramatische und sehr tragische Seite. Da gibt es nicht nur die Scherze, wegen denen er so bekannt ist, sondern auch die Sucht, der er verfallen ist: der Alkohol. Dazu kommt noch einmal sein dramatisches Ende, das durch die Krankheit, die diagnostiziert wird, beschleunigt wurde. Als er die Diagnose Krebs bekam, wollte er nicht mehr leben und hat einen Abschiedsbrief geschrieben: Die Leute sollen lachen und trinken ihm zu Ehren. Danach hat er die Schuhe auf die Brüstung der Kornhausbrücke von Bern gestellt, den Abschiedsbrief hineingelegt und ist von der Brücke gesprungen.

Christian Struppeck - Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

Christian Struppeck – Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

MC24: ‚Dällebach Kari‘ ist ein ur-schweizer – ja sogar ur-berner Stoff. Besonders spannend ist, dass bereits an der Entstehung des Stückes verschiedene Nationen beteiligt sind. Wie kam es dazu?

AG: Die Keimzelle des Musicals ist nach wie vor in der Schweiz. Die ursprüngliche Idee kommt hier aus den Reihen der Thuner Seespiele. Diese Entwicklung ging bis zu einem bestimmten Punkt, wo sie gesehen haben, jetzt brauchen sie das Know How für die Musicalentwicklung. Da kamen wir, gewissermaßen als die Musicalexperten dazu, um dem Ganzen dann eine Form zu geben. Der Schweizer Geist kam ganz klar aus den Schweizer Reihen und wir haben diesem dann die Musicalform gegeben – sowohl Christian (Struppeck) in der Stückentwicklung als auch ich in der Regie und Michael Reed dann, um dem Ganzen eine musikalische Form zu verpassen. Das war eine fruchtbare Zusammenarbeit und auch eine sehr sinnvolle. Im Nachhinein bin ich der Überzeugung, dass es gut war, dass wir als Nicht-Schweizer dazugekommen sind. Natürlich gab es am Anfang von den Schweizern Vorgaben, wer diese Figur ist und was sie beeinhalten muss. Da gab es viele Meinungen. Irgendwann aber mussten wir zu einem Konsens darüber kommen, welche Eigenschaften oder Themen wir besonders hervorarbeiten. Da war es gut, dass wir mit einer gewissen Neutralität von außen auf das Berner Original schauen konnten.

MC24: Was macht das Stück für ein deutsches oder europäisches Publikum reizvoll?

AG: Erst einmal ist es ein Musical mit einer ganz grandiosen Musik. Der Schweizer Komponist Moritz Schneider und sein Co-Komponist Robin Hoffmann haben wunderbare Melodien und hervorrragendes musikalisches Material geschrieben, aus denen Michael Reed die tollen Musical-Songs gemacht hat. Zu einer unglaublich starken Musik kommt eine starke Geschichte, die lokal hier angesiedelt ist. Es gibt ja auch andere Musicals – wie Anatevka zum Beispiel –, die in einem anderen Kulturkreis angesiedelt sind, und trotzdem für ein internationales Publikum interessant sind, weil sie eine gute Geschichte haben, die Emotionen weckt. Besonders reizvoll ist auch, dass Tragik und Komik in ‚Dällebach Kari‘ so dicht beieinander liegen, ja einander sogar bedingen. Kari hat diese Komik gerade deshalb entwickelt, weil er dieses Mal im Gesicht (Hasenscharte) hatte. Um nicht verlacht zu werden, hat er sein Witze entwickelt, damit die Leute mit ihm lachen und nicht über ihn.

Trotzdem war die Dramatik seines Lebens, dass er dem Alkohol so verbunden war. Daraus haben wir eine fiktive Dreiecksgeschichte gestrickt. Zwischen ihm und seiner großen Liebe Annemarie Geiser, die in seinem realen Leben nur wenige Monate eine Rolle gespielt hat. Aus dieser authentischen Begegnung haben wir eine lebenslange Liebe gemacht, die ihn begleitet. Doch nicht nur die Liebe begleitet ihn, sondern auch der Alkohol, aus dem wir eine allegorische Figur gemacht haben. Dällebach Kari befindet sich zwischen diesen beiden Antipoden, der Liebe zu Marie und der Alkoholsucht.

Hanspeter Müller-Drossaart als Karl Tellenbach/Dällebach Kari - Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

Hanspeter Müller-Drossaart als
Karl Tellenbach/Dällebach Kari – Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

MC24: Keine Personifikation des Todes, sondern des Alkohols.

AG: (lacht) Ja, kein Ché, kein Luccheni und kein Tod, sondern der personifizierte Alkohol. Das war auch eine Entwicklung, um die Figur herauszuarbeiten. Am Anfang war es ein Mensch, der sich unter die Feiernden mischt, der mit jedem sprechen kann. Um Klarheit für die Figur Alkohol zu entwickeln, kann jetzt nur noch der Kari mit dem Alkohol sprechen. Er ist für die anderen nicht sichtbar, sondern geht durch die Szenen durch wie ein Geist und nur der Kari sieht ihn, nimmt ihn wahr und kann sich mit ihm auch verbal auseinandersetzen.

MC24: Damit betonen Sie ja auch, dass es um seine Sucht geht. Um noch einmal ‚Elisabeth‘ zu bemühen, wie der Tod ja auch nur von Elisabeth gesehen wird.

AG: Genau, das ist richtig. Doch es gibt einen ganz wichtigen Unterschied. Beim Tod in ‚Elisabeth‘ erstarrt alles vor Ehrfurcht vor seiner Majestät, dem Tod. Bei uns ist der Alkohol eher subtil und unsichtbar anwesend. Es ist ja auch nicht nur der Alkohol, sondern vor allem die Gefahr, die von dem Alkohol ausgeht, das Suchtpotential. Der Alkohol ist immer mit im Raum, wird gar nicht so sehr wahrgenommen und ist ein Intrigant, der eher subtil unterwegs ist. Er ist nicht der Mittelpunkt, sondern versucht, sich so von der Seite an die Leute heranzumachen und sie zu manipulieren.

MC24: Eher eine Mephisto-Figur?

AG: Ja, auch vergleichbar. Unser Hauptdarsteller Hanspeter Müller-Drossaart, der dem Alkohol Sergio-Maurice Vaglio verfällt, hat in den letzten Wochen der Probenzeit etwas sehr Interessantes zu der Figur gesagt. Dass nämlich der Alkohol eine ganz besondere Theater-Figur ist, wie sie ihm noch nicht untergekommen ist. Und das hat mich von einem gestandenen Theaterschauspieler wie ihm, der sich sehr gut auskennt und schon am Burgtheater gespielt hat, besonders gefreut. Ich bin ganz stolz drauf, dass wir diese Figur so entwickelt haben.

Der Alkohol möchte Dällebach Kari gar nicht so zum Bösen verführen, sondern er buhlt eher wie ein Dealer um seine Gunst, möchte ihn für ein Heer von Süchtigen rekrutieren. Wir haben die Figur des Alkohols auch als einen Einzelgänger dargestellt, der sehr einsam ist und der gerne in Gesellschaft sein will. Wenn die Menschen ihm verfallen, ist er nicht alleine. Das ist ein großes Stichwort, dass dieser Alkohol nicht alleine sein will und deshalb die Süchtigen sucht, die ihm verfallen. Das ist seine Motivation, die Geselligkeit zu suchen, die beim Saufgelage gegeben ist. Er möchte am Schluss auch nicht, dass der Kari stirbt, sondern möchte ihn mit Hilfe seiner Droge davon abbringen, seinem Leben ein Ende zu setzen . Denn dann würde er ihn verlieren als Süchtigen. So gibt es auch eine Art Wechselwirkung zwischen Kari und dem Alkohol.

Annemarie Geiser (Carin Lavey) und Dällebach Kari - Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

Annemarie Geiser (Carin Lavey) und Dällebach Kari – Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

MC24: Welche Rolle spielt in dieser Dreierkonstellation, von der Sie sprachen, dann seine große Liebe – Annemarie?

AG: Ja, die Frau ist Annemarie. Und ganz zu Anfang braucht er den Alkohol, um überhaupt den Mut zu haben, Annemarie anzusprechen. Dadurch kommt er in den Teufelskreis hinein, dass er ohne den Alkohol nicht mehr auskommt. Aber eigentlich will Annemarie ihn von der Sucht wegbringen. Sie ist gewissermaßen die Gegenspielerin des Alkohols, weil sie verhindern möchte, dass Kari immer mehr dieser Sucht verfällt. Letztendlich gelingt ihr dies auch kurz vor Schluss, als er sich wirklich an seinem tiefsten Punkt, an dem er abzustürzen droht , befindet. Wir haben ein großes Delirium-Bild, wo wir diesen Konflikt dann auch noch einmal szenisch und psychologisch darstellen, und danach schafft es Annemarie auch, Kari vom Alkohol wegzubringen. Dann schlägt das Schicksal in Gestalt der Krebsdiagnose zu und das ist der Grund, dass er sich aus dem Leben davon stiehlt , weil er sagt, er habe der Annemarie schon so viel Leid mit seiner Sucht gebracht. Er möchte sie nicht noch unglücklicher machen, indem er jetzt zum Pflegefall wird. Deshalb verabschiedet er sich an diesem Tag wie an jedem anderen auch. Er möchte sie noch einmal sehen, sagt ihr aber nicht, was Sache ist. Er geht einfach aus dem Leben und schleicht sich davon.

MC24: Inwiefern werden die Hänseleien in seiner Kindheit, die ja auch die Komik des Originals hervorgebracht haben, thematisiert?

AG: Wir haben am Anfang ein Bild, wo wir den kleinen Kari sehen und wo deutlich wird, dass er keine leichte Kindheit hatte, sondern ausgelacht und gehänselt wurde. Aber auch, dass er trotzdem ein Ziel vor Augen hatte und etwas werden wollte. Das Stück beginnt mit der Beerdigung von Kari, wenn Annemarie übrig bleibt und dort am Grab steht. Dann tritt der große Kari dazu erzählt rückblickend seine Geschichte. Beginnend mit der Kindheit lässt er das Leben vor seinem geistigen Auge ablaufen. Und aus dem Grab, wo Kari beigesetzt wird, strömen die Scharen von Kindern und im nächsten Bild haben wir dann einen Schulhof, in dem wir den kleinen Kari sehen, wie er von den anderen Kindern gehänselt wird.

Das Ensemble von 'Dällebach Kari' auf der Bühne  - Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

Das Ensemble von ‚Dällebach Kari‘ auf der Bühne – Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

MC24: Sie haben gerade den Umbau einer Szenen beschrieben. Wie müssen wir uns die Ausstattung der Bühne vorstellen?

AG: Wir haben sehr auffällige Kostüme (Kostümgestaltung: Uta Loher / Conny Lüders), in denen sich die unterschiedlichen Zeiten spiegeln. Die Bühne (Bühnenbild / Licht: Ueli Binggeli) selbst ist sehr abstrakt und eine gestalterisch wandelbare Spielfläche. Sie besteht in einer liegenden Hausfassade und aus den Fenstern kann dann gleichzeitig ein Grab werden, aber auch die Hausöffnungen, aus denen die Berner Stadtbevölkerung heraustritt. Auf der Hausfassade steht ein besonderes Wahrzeichen der Stadt Bern, der Zytglogge (Zeitglocken) mit ihrem Glockenspiel. Auf der abstrakten Bühne spielen sich alle Räume ab.

MC24: Wie war der Verlauf des Castings für Dällebach Kari?

AG: Das Casting hat dieses Mal sehr lange gedauert, weil wir konkret nach Schweizer Darstellern gesucht haben. Derzeit boomt, könnte man sagen, das Musical in der Schweiz: Es gibt die ‚Ewigi Liebi‘, es gibt ‚Die Schweizermacher‘. Und wir hatten das Glück, dass wir ganz tolle Leute gefunden haben. Hanspeter Müller-Drossaart, der Hauptdarsteller stand eigentlich von Anfang an fest . Noch bevor wir dazugestoßen sind, war klar: Er ist der Dällebach Kari. Dieser Entscheidung kann ich nur beipflichten, weil er ein absolut außergewöhnlicher Schauspieler ist. Beim weiteren Casting, muss ich sagen, hatten wir großes Glück, dass die wenigen Leute, die wir für die Rollen gesehen und gut befunden haben, auch für den ‚Dällebach Kari‘ Zeit hatten.

MC24: Es gibt Leute in der Szene, die einem Musical trotz eines Schweizer Themas absprechen ein Musical zu sein, weil eine Anzahl Deutscher, Österreicher mitwirken oder besetzt wurden. Wie sehen Sie das?

AG: Bei einem Stück, das mit Dialekt und dem sprachlichen Umgang arbeitet wie Dällebach Kari, ist es schon wichtig, dass die Hauptrollen mit Schweizern besetzt sind, damit es authentisch wirkt. Wir hatten das Glück, das tun zu können. Gleichwohl haben wir einige Deutsche, Österreicher und auch Amerikaner im Ensemble. Sie haben – wie die Schweizer auch – über den Dialekt-Coach ganz schnell die Mundart gelernt und fallen im Ensemble nicht weiter auf. Und alle anderen Schweizer, die jetzt in das Projekt involviert sind, können damit gut umgehen. Wir haben ein gut zusammen passendes Ensemble.

MC24: Es gibt die verschiedensten Aspekte, die eine Besetzung bestimmen. Hat derjenige Zeit zu spielen, oder fällt die Produktion in die Proben für eine längerfristige Produktion? Passt der Typ, den man sucht, passt das Spielalter, das man braucht…um nur einige zu nennen.

AG: Genau. Hier gab es keine negativen Stimmen in der Produktion, aber es gab einen Gegen-Theaterabend, in dem man sich tatsächlich aufgeregt hat, dass zwei Deutsche sich diesem besonderen Schweizer Stoff nähern. Sie haben in diesem Theaterabend einen fiktiven Andreas Gergen und einen fiktiven Christian Struppeck auf die Bühne gebracht, die sich diesem Schweizer Stoff inhaltlich nähern. Das Ganze war komödiantisch, war kabarettistisch aufbereitet und stellte für unser Stück keine Gefahr dar. Dennoch war das natürlich in dieser Produktion ein Thema. Damit auch die Frage, ob sich keine Schweizer gefunden hätten. Darauf gibt es eine ganz einfach Antwort: Natürlich gibt es Schweizer Künstler, die das können, die aber für diese Produktion nicht zur Verfügung standen. Deshalb hat man andere Musical-Experten, die das Know How besitzen, wie man ein Musical auf die Bühne bringt und auch entwickelt, aus dem Ausland engagieren müssen; damit ein toller musikalischer und dramatischer Inhalt auch eine Form bekommt und das Ganze funktioniert.

Und das tut es. (strahlt) Wir hatten jetzt am letzten Freitag eine Voraufführung mit Testpublikum. Im Februar hatten wir einen Workshop, bei dem das Stück sehr gut funktioniert hat – im kleinen Rahmen. Damals haben wir mit 20 Darstellern das Ganze in einem kleinen Theaterraum auf die Bühne gebracht und gesehen, dass das Stück wirkt. Für mich war jetzt die große Frage, würde es auch funktionieren, wenn Zweieinhalbtausend das Stück auf einer riesigen Open Air-Bühne sehen. Eine meiner wichtigsten Aufgaben als Regisseur ist ja, die Emotionen einer Geschichte sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum wirksam zu erarbeiten. Und ich muss versuchen, sie wiederholbar zu machen.Und da bin ich seit Freitag sehr beruhigt. Die gleichen Emotionen, die im kleinen Raum hervorgerufen wurden, haben auch im großen Rahmen geklappt. Zum Schluss wurden die Taschentücher gezückt und es blieb kein Auge trocken.

Probenfoto vom Mattenfest  - Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

Probenfoto vom Mattenfest – Foto: thunerSeespiele AG, Markus Grunder

MC24: Sie hatten ja eine Notsituation. Wie geht man damit um, wenn der Hauptdarsteller kurz vor der Premiere ausfällt?

Wir hatten die Voraufführung am Freitag mit unserer Zweiten- bzw. Alternativbesetzung des Dällebach Kari, mit Peter Zimmermann. Der hat seine Sache ganz prima gemacht, nachdem er sich innerhalb von wenigen Tagen diese Rolle angeeignet hatte. Eigentlich war das gar nicht geplant. Hanspeter Müller-Drossaart, die Erstbesetzung, ist so bekannt in der Schweiz, dass die Produktion hoffte, dass Peter Zimmermann gar nicht zum Zug kommen muss, sondern immer der Hanspeter Müller-Drossaart spielt. Doch nun musste Peter Zimmermann ganz schnell wegen der Krankheit der Erstbesetzung einspringen. Das hat er ganz souverän gemacht. Er ist wirklich ins kalte Wasser gesprungen – nicht nur das kalte Wasser des Stückes, sondern auch das der Erwartung, die die Zuschauer an die Hauptrolle hatten. Für seine Leistung ist er dann wirklich mit Standing Ovations belohnt worden. Am Freitag nach der Preview haben wir erstmals wieder mit Hanspeter Müller-Drossaart geprobt. Wir hoffen alle sehr, dass er die Premiere spielen wird. Er ist trotz eines größeren Eingriffs wieder relativ fit und gut auf den Beinen.

MC24: Was bringt die Thuner Seespiele nach einem Musicalrepertoire von ‚Jesus Christ Superstar‘ bis ‚Elisabeth‘ dazu, sich explizit einem Schweizer Musicalthema zu widmen? Wollte man an den Erfolg von Schweizer Produktionen wie ‚Heidi‘ (Walensee) anknüpfen?

AG: Ich denke, dass es nach den Erfolgen der letzten Jahre einfach an der Zeit war, ein eigenes Musical zu entwickeln. Dass man sehen wollte, ob man nicht auch eine eigene Sache mit einem typischen Schweizer Stoff auf die Bühne bringen kann. Ich denke, dass der Schritt zum eigenen Musical gar nicht weit ist, wenn man sich bereits lange Zeit mit Musicals beschäftigt hat, und glaube nicht, dass man dabei auf andere Produktionen geschaut hat und an sie anknüpfen wollte. Das eigene Musical war ein Wunsch des Produzenten und Geldgebers, der eigens für das Schweizer Musical den Heimatland Verlag gegründet hat. Mit diesem hat er dann auch das Stück entwickelt, bei ihm liegen die Rechte, d.h. er erhält von den Thuner Seespielen Tantiemen und darf das Stück weiterverwerten wie auch an andere Theater lizenzieren. Im kommenden Jahr kommt die nächste Uraufführung, das Musical ‚Gotthelf‘ über einen Schweizer Autoren, der zahlreiche Heimatgeschichten geschrieben hat. Es gibt auch einen Film, der in den 1950er Jahren in Deutschland sehr bekannt war über ein Dorf, das mit der Zeit gehen möchte und an den wirtschaftlichen Erfolg der Nachbardörfer anknüpfen möchte, die alle schon eine Käserei besitzen. Das Ganze spielt in Emmental, ist also auch ein typisch Schweizer Stoff.

MC24: Was Sie über ‚Dällebach Kari‘ erzählt haben, ist es eine tragende Geschichte mit Humor, Dramatik und großen Emotionen. In Deutschland haben wir seit dem großen Erfolg von ‚Mamma Mia!‘ den Trend zu den Compilation Shows. Scheinbar wollen die Leute das sehen. Wie sehen Sie die Entwicklung der Musicallandschaft?

AG: Ich denke, dass bei allen Theater- und Musicalentwicklungen immer die Absicht dahintersteht, Emotionen hervorzurufen. Gerade ‚Mamma Mia!‘, was ja – zugegeben – eine sehr simple Anordnung der Geschichte ist, hat durchaus emotionale Tiefe. Ein anderes gutes Beispiel ist ‚Ich war noch niemals in New York‘, wo Christian und ich versucht haben, Menschen wie Du und ich auf die Bühne zu stellen. Man wollte kein Phantom der Oper, sondern Alltagsgeschichten darstellen, in denen sich die Zuschauer mit ihren menschlichen Problemen auch wieder erkennen. Sei es ein Generationskonflikt, die Beziehung Mann-Frau, Mann-Mann – das sind Dinge, die wir in das Udo Jürgens-Musical eingebracht haben und die von Christian (Struppeck) dann in seiner Stückentwicklung auch umgesetzt wurden.

MC24: Damit haben Sie jetzt vor allem die beiden positiven Beispiele herausgestellt, die funktionieren. Meist wird aber doch eine oberflächliche Handlung um die Trendmusik einer Zeit gestrickt.

AG: Gerade bei ‚Mamma Mia!‘ war es eine große Überraschung. Ich habe Geschichten gehört, nach denen es ursprünglich in London nur für einige Wochen angesetzt war. Damit ,dass es jahrelang erfolgreich läuft, hat keiner wirklich gerechnet. Natürlich gab es dann Versuche, an diesen Erfolg anzuknüpfen, aber ich denke, dass das einfach Trends sind und das Thema Compilationshows jetzt auch lang genug ausgeschlachtet wurde. Ich sehe, dass es schon wieder einen Trend zu anderen Musicals gibt mit Geschichten und einer eigenen Musik. Während nach den Compilationshows erst einmal die Comedy-Musicals in waren, wie ‚Spamalot‘, ‚The Producers‘ oder ‚Der Schuh des Manitu‘, sind wir doch wieder auf dem Weg uns zurück zum Drama Musical und Buch-Musical (book musical) zu entwickeln. Und für mich geht der Trend klar in die Richtung, Menschen wie Du und ich auf der Bühne zu haben, nicht mit bekannten Liedern, sondern mit Original-Musik. Figuren, die man nachvollziehen kann, jetzt gar nicht große literarische Vorbilder wie ‚Das Phantom der Oper‘ oder ‚Les Misérables‘, sondern mit der Tendenz zu Alltagsfiguren und eigener extra dafür komponierter Musik.

In diesem Sinne finde ich die Pionierarbeit der Thuner Seespiele sehr lobenswert. Dass man sich nicht nur auf die bestehenden Musicals verlässt – es werden sicher auch wieder Klassiker kommen – sondern es wagt, Eigenes zu machen. Ich freue mich, dass man an dem Kartenverkauf von ‚Dällebach Kari‘ sieht, dass sich der Mut gelohnt hat.

MC24: Demnach ist die Produktion zufrieden.

AG: Absolut, ja. Wir hatten noch nicht Premiere und es sind schon 80 oder 85% der Karten verkauft. Finanziell sind die Kollegen schon einmal zufrieden. Nach unserer ersten Voraufführung kamen sogar eine große Anzahl positiver Rückmeldungen in Form von E-Mails an die Thuner Seespiele, in denen sich Zuschauer für den tollen Theaterabend bedankt haben. Jetzt müssen wir nur noch den Mittwoch und damit unsere Premiere glücklich über die Bühne bringen.

Dafür von Herzen toi-toi-toi und vielen Dank für die spannenden Einblicke in das Schweizer Musical.

Das Interview führte Barbara Kern