»Lass Dich überraschen!« – Thomas Borchert zur Uraufführung » Der Graf von Monte Christo«

Am 14. März 2009 fand am Theater St. Gallen die Welturaufführung des Musicals ‚Der Graf von Monte Christo‘ statt, in dem Thomas Borchert die Titelrolle verkörpert. Im Rahmen der Musical-Tage St. Gallen sprachen wir mit dem Künstler über die Herausforderungen seines Rollenprofils und sein Verständnis von Theater.

Thomas Borchert. Foto: Karim Khawatmi

Thomas Borchert. Foto: Karim Khawatmi

MC24: ‚Der Graf von Monte Christo‘ ist ein Musical von Frank Wildhorn und seine Weltpremiere hier in St. Gallen fand kurz nach der Premiere von ‚Rudolf – Affaire Mayerling‘ in Wien statt, in der Stadt, in der Sie lange erfolgreich ‚Jekyll & Hyde‘ gespielt haben. Was macht für Sie den besonderen Reiz von Frank Wildhorns Stücken aus?

TB: Als ich zum ersten Mal Musik von Frank Wildhorn gehört habe, die mir ein Kollege vorgespielt hat, war ich total begeistert. Es war eine CD-Aufnahme von ‚Jekyll & Hyde‘, ein Precast- oder Concept-Album, ähnlich wie unser Album von ‚Der Graf von Monte Christo‘, das wir vorab auf Englisch aufgenommen haben. Als ich dann die Songs im Musical ‚Jekyll & Hyde‘ singen durfte, habe ich gemerkt, dass diese Musik sich anfühlt, als wäre sie für meine Stimme geschrieben, das hat einfach gepasst. Außerdem versteht es Frank Wildhorn absolut, große Gefühle, große Emotionen, in Musik auszudrücken, deshalb fühlt man sich auf der Bühne mit diesen Songs immer total getragen und das ist etwas ganz Besonderes, etwas ganz Schönes.

Dass Frank Wildhorn diese Rolle (Edmond Dantès) nun sogar für meine Stimme geschrieben hat, ist natürlich ein Riesengeschenk. Jetzt werde ich auf wunderbare Art und Weise darin bestätigt, dass ich schon immer das Gefühl hatte, es fühlt sich so an, als sei es für mich geschrieben.

MC24: Wie sehen Sie die Umsetzung von Alexandre Dumas‘ Roman im Stück?

TB: Er ist fantastisch umgesetzt, was soll ich weiter dazu sagen? Im Buch, das ich natürlich gelesen habe, ist es eine Riesengeschichte, die 1200 Seiten umfasst. Es gibt unglaublich viele Handlungsstränge, und wie es eben so ist, kann man in einem Musical von 2 Stunden, vielleicht 2 Std. 10 reiner Spieldauer, natürlich nicht alle Handlungsstränge wiedergeben. Das ist unmöglich. Genau wie bei großen Literaturverfilmungen gibt es eben Leute, die das richtig gut machen, die gut auswählen, so dass die Geschichte immer noch Sinn macht, die es verstehen, sich die wichtigsten Handlungsstränge zu nehmen, sie zu formen, ohne dass dabei etwas von der Essenz verloren geht. Es ist genau wie guter Journalismus. Wenn man es schafft etwas, zu dem ein Normalsterblicher vielleicht 10 DINA4-Seiten schreiben würde, in 20 Zeilen auf den Punkt zu bringen – das ist große Kunst.

Und deshalb finde ich das, was hier gemacht wird, auch ganz große Kunst. Es ist tatsächlich gelungen, diese große Geschichte in etwas über 2 Stunden Spieldauer auf die Bühne zu bringen. Man versteht sie und man versteht sie emotional. Was ich auch sehr schön finde und was im Buch ja auch schon ganz wichtig ist, es wird deutlich, dass es hier nicht nur einfach um einen großen Rache- und Abenteuerroman geht, sondern um viel mehr: Es geht um die Gier im Menschen, es geht um Glauben, es geht darum, wie weit ein Mensch überhaupt in seiner Selbstjustiz gehen darf. Deshalb ist die Handlung auch sehr zeitgemäß im Moment. Es geht um Geld, und was man mit Geld alles erreichen kann. Wie blind Menschen werden, wenn es um Geld geht. Das Fiasko, das daraus resultieren kann, haben wir ja im Moment global. Insofern bin ich sehr stolz auf dieses Stück, an dessen Entstehung ich mitwirken durfte. Ich bin sehr stolz auf einen Regisseur (Andreas Gergen), der es versteht, Dinge gut zu transportieren und auf die gesamte Cast, die Kollegen. Wir verstehen uns alle sehr gut. Hinter uns liegen knapp acht Wochen harte Arbeit, aber diese wäre eine noch viel härtere gewesen, hätten wir nicht diesen Zusammenhalt gehabt, hätte nicht Jeder wirklich diese Unterstützung gespürt – von den anderen und vom Regisseur. Hier hat einfach alles gepasst, das ist höchst selten und ich möchte dieses Wort noch mal strapazieren, es ist ein ganz großes Geschenk.

MC24: Was ist Ihre Rolle für eine Figur, oder sind es vielleicht sogar zwei Figuren? Und was möchten Sie in Ihrem Spiel besonders zeigen?

TB: Ich glaube, kaum ein Mensch kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn einem so etwas widerfährt wie das, was in diesem Stück und in diesem Roman, der dem Stück zu Grunde liegt, der Figur ‚Edmond Dantès‘ widerfährt. Auch nicht, was das letzten Endes dann frei setzen kann in einem Menschen… Meine Aufgabe ist es, im ersten Teil des Stückes einen einfachen jungen Seemann zu zeigen und zu spielen, einen Menschen, der durch und durch eigentlich ja fast naiv ist, ein lieber, ein liebenswürdiger Mensch, der liebt und geliebt wird und der glaubt keine Feinde zu haben.

MC24: Das haben Sie gestern Abend sehr überzeugend gemacht.

TB: Danke. Dann ist es meine Aufgabe zu zeigen, dass sein Glaube, den wir auch alle tief irgendwo in uns verwurzelt haben, denke ich – ja – die ganze Menschheit, der Glaube an das Gute in jedem Menschen, dass dieser mehr und mehr verloren geht. Das geschieht spätestens dann, wenn Dantès erfährt, dass nicht nur sein Vater gestorben ist, sondern auch seine große Liebe mit seinem, inzwischen größten Feind, verheiratet ist und einen Sohn hat, der wiederum mit der Tochter von Villefort verlobt ist, einem weiteren großen Widersacher von ihm, der ihn letztendlich ins Chateau d’If gebracht hatte, obwohl er wusste, dass er unschuldig ist. Das Alles führt dann letzten Endes dazu, dass in ihm regelrecht ein Schalter umgelegt wird.

Es ist so, wie Sie sagen: Wir sehen im 2. Akt eigentlich einen anderen Menschen, der nur noch von Rachegefühlen lebt, einen Menschen, der – glaube ich – sonst auch gar nicht mehr existieren könnte; er hätte sich entweder umgebracht oder wäre vor Gram und Unglück gestorben. Das heißt, sein Vergeltungsstreben erscheint ihm in diesem Moment als einzige Rettung.

Im Grunde genommen gibt es drei wichtige Wendepunkte. Der erste Wendepunkt ist, wenn er unschuldig ins Chateau d’If geworfen wird und ihm dann die Einsicht kommt: ‚Ich werde hier bleiben und weiß nicht warum‘. Da geschieht natürlich schon etwas mit ihm, wenn ein Mensch 14 Jahre im Kerker sitzt und nicht weiß, für was er hier ist. Dann stößt er auf den Abbé Faria, der ihm neue Möglichkeiten eröffnet, das Warum zu beantworten. Trotzdem bleibt der Kern, der gute Dantès ist noch da, aber man spürt, dass er immer mehr denkt, wenn ich hier heraus komme, dann werde ich es denen, die mir das angetan haben, heimzahlen.

Dann gelangen wir an den nächsten Punkt. Er erfährt von Jacopo, was aus seinen Widersachern geworden ist, was aus seiner großen Liebe geworden ist. Da ist also, wie ich schon sagte, wieder ein Wendepunkt im Stück. Von da an zieht er kalt und gnadenlos seinen Rachefeldzug durch bis zu dem Moment, in dem er geläutert wird, dadurch, dass er sich an den Menschen erinnert, der er einmal gewesen ist. Ihm wird durch das junge Paar, dieses unglaublich verliebte Paar Valentine und Albert vor Augen geführt, wer er einmal war, wo er eigentlich herkommt und was ihm das alles mal bedeutet hat.

Da ist der nächste Punkt, der nächste Schalter, der umgekippt wird. Und eben das ist für mich die große Herausforderung in dieser Rolle: diese verschiedenen Punkte, wie soll ich es nennen – nicht Punkte. Es sind Türen oder Tore, durch die man hindurch geht, es ist eine Entwicklung, bei der jedes Mal wieder eine Tür aufgemacht und zugleich eine andere Tür geschlossen wird. Ich würde sogar eher sagen: Die Türen werden mehr und mehr geschlossen, bis dieser Mensch ein total geschlossener Mensch ist, der nur noch von Rachegedanken getrieben agiert, eigentlich fast wie eine Maschine. Zum Schluss werden die Türen dann wieder vorsichtig geöffnet, ganz langsam und das ist die große Herausforderung für mich in diesem Stück, diese ganze Entwicklung glaubhaft darzustellen. Eben bis zu dem Punkt, der auch wichtig ist: Es ist zum Schluss nicht Friede, Freude, Eierkuchen, das kann es nicht sein, im Roman ist es sowieso ganz anders. Hier wird ein Happy End angestrebt, aber, was ich auch wiederum sehr gut finde, ist, dass es zwar in gewisser Weise ein Happy End ist, wir aber am Schluss doch Figuren sehen, die eine ganz schön lange Reise hinter sich haben, die Zeit brauchen, die sich jetzt nicht einfach, wie damals, als sie jung waren, verliebt in die Arme fallen, sondern denen man anmerkt, dass sie Zeit brauchen, bis sie einander wieder nahe kommen können. Ich würde mal sagen, es ist ein offenes Happy End.

MC24: Wenn Sie von Herausforderung sprechen. Liegt vielleicht eine besondere Herausforderung auch im Fechten?

TB: Natürlich, ich habe für dieses Stück von der Pike auf Fechten gelernt, was sehr viel Spaß gemacht hat, ich habe vielleicht sogar eine neue Obsession für mich gefunden…Hobby ist ein doofes Wort… Es macht mir wirklich großen Spaß.

Ich habe ja, noch bevor wir überhaupt angefangen haben, offiziell zu proben, mich schon mit Jochen Schmidtke in Hamburg getroffen, damit wir vorab schon mal arbeiten können, damit er mir die Grundlagen des Fechtens beibringt und ich habe sehr schnell einen Faible dafür entdeckt bei mir. Ich habe damals auf der ‚Stage School of Music, Dance and Drama‘,
noch unter Volker Ullmann, Grundlagen des Fechtens erlernt, aber das ist so lange her, das war 1988, dass davon nicht mehr viel übrig war. So habe ich hier sozusagen noch einmal neu angefangen und meine Liebe für’ s Fechten entdeckt. Für mich kann das auch gerne weiter gehen, ich würde das gern weiterbetreiben, auch neben dem Stück. Ich bin sehr stolz darauf, was wir, Carsten Lepper, meine anderen Kollegen und ich, in den großen Fechtszenen in der kurzen Zeit zusammen geschafft haben, das ist ganz toll.

MC24: Es gibt ja zwei Fechtszenen und dazu noch einen Messerkampf.

TB: Ja, es gibt noch den Messerkampf. Das sind alles tatsächlich sehr schwierige, anspruchsvolle Kampfchoreographien, die man ausführen muss. Es ist fantastisch, weil man die Möglichkeit hat, das alles in diesem, in einem Stück zu machen. Das ist schon ganz großartig für einen Darsteller und es hat mich in vielfacher Hinsicht weitergebracht.

MC24: Sie haben schon angedeutet, dass es eine sehr gute Arbeit war mit Andreas Gergen. Es ist ja sehr unterschiedlich, wie Regisseure arbeiten. Manche verlangen, dass ihnen viel von den Darstellern angeboten wird und andere möchten ein Konzept genau umgesetzt haben. Wie ist das bei Andreas Gergen?

TB: Andreas Gergen trifft da die gute Mitte, würde ich sagen, deshalb ist es so schön, mit ihm zu arbeiten. Er ist einfach situativ wendig, er ist flexibel in der Arbeit. Er hat vorher, was ich auch sehr wichtig finde, ein Konzept, das steht, ganz klar, ein Grundkonzept, einen Rahmen und er hat auch bestimmte Vorstellungen, aber innerhalb dieser Vorstellungen – des Rahmens – können wir uns frei bewegen. Wir haben eben auch die Möglichkeit, ihm hier und da etwas ganz Anderes anzubieten oder etwas zu zeigen, bei dem er dann Entdecker ist und sagt: „Wow, ok, das gefällt mir, warum hab ich so noch nicht gedacht? Das wollte ich vielleicht, hatte es aber anders in meiner Vorstellung. Jetzt aber gefällt mir das sehr gut oder sogar noch besser; wunderbar, machen wir es so.“ Es war eine sehr flexible, eine wirkliche Zusammenarbeit. Er ist kein herrschender Regisseur, kein herrschsüchtiger Regisseur, er ist einfach ein ganz angenehmer, lieber Mensch, der es auch nicht nötig hat herumzubrüllen, oder Menschen irgendwie abfällig zu behandeln, das gibt’s ja auch alles, Jemand, der noch nicht mal irgendwelche fürchterlichen Launen hat zwischendurch. Er wirkt immer sehr ausgeglichen, man kann immer mit ihm reden, er ist immer ansprechbar, arbeitet wie ein Tier. Er hat wirklich meine größte Hochachtung. Ich arbeite wahnsinnig gern mit ihm.

MC24: ‚Der Graf von Monte Christo‘ ist bereits Ihre zweite Zusammenarbeit.

TB: Genau, es ist unsere zweite Zusammenarbeit, und auch schon bei ‚Dracula‘ oder nach ‚Dracula‘ haben wir beide gesagt: „Mensch, das wäre schön, wenn wir bald wieder zusammenarbeiten würden!“

Was ich wichtig finde, vielleicht als Schlusswort: Das ist zugleich mein Lebensmotto, eigentlich das Rudi Carrell-Motto „Lass dich überraschen!“ Das ist nämlich tatsächlich, finde ich, sehr wichtig im Leben, in einem Leben, in dem es eigentlich nur um die Vergangenheit und um die Zukunft geht. Es wird immer schwerer, im Jetzt zu leben und das Theater ist nur jetzt. Wir entführen die Leute für Momente, für ein paar Stunden und was wir auch tun, so ganz nebenbei, was sie vielleicht gar nicht erst merken, dass sie in dem Moment ganz im Jetzt sind, wenn Sie uns zuhören, wenn Sie sich drauf einlassen auf die Geschichte. Es ist schön, wenn man sich überraschen lassen kann vom Leben – schön, wenn man sich auf der Bühne immer wieder überraschen lassen kann von der Rolle, vom Moment, wenn alle Antennen offen sind. Das ist, was ich hier in höchstem Maße empfinde bei dieser Produktion, das ist das, was auch Andreas Gergen immer wieder zum Ausdruck gebracht hat.

Das Schlimmste, was passieren kann, vor allem in Ensuite-Produktionen, ist, dass ein Stück irgendwann einfach nur noch abgenudelt wird. Dagegen muss man jeden Abend kämpfen, insofern als dass man sich selbst und alles um sich herum immer wieder neu erfindet, mit neuen Augen, mit neuen Ohren sich darauf einlässt, die Angst verliert, dass man vielleicht irgendwo den Text vergessen könnte, oder dass vielleicht irgendwas passiert, weil man so sehr im Moment ist. Aber das macht es aus, in dem Moment ist es, erstens die höchste Kunst des Schauspielens und zweitens auch das Schönste, was einem als Darsteller auf der Bühne passieren kann, wenn man total im Moment ist – gemeinsam mit dem Publikum und man alles wie zum ersten Mal erlebt. Das ist bei der Rolle, die ich jetzt spiele, ganz besonders wichtig, denn im ersten Teil geschieht mir immer nur alles, ich bin eigentlich der passive Teil, dem alles widerfährt, da kommt was, da kommt was, da kommt was, ich reagiere nur darauf. Da ist es meine Aufgabe immer wieder ganz neu darauf zu reagieren, diese Dinge ganz neu zu erleben, was passiert da mit mir in diesem Moment, das ist Theater und das, finde ich, ist Andreas gelungen hier mit dieser Produktion und mit dieser Cast, mit diesem Ensemble, das zu vermitteln, dem Publikum, aber auch uns, weil es natürlich unsere Aufgabe ist, allabendlich die Menschen in diesen Moment zu entführen.

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch.