Die Ewigkeit liegt in jedem Augenblick — so lautet der geheimnisvolle Untertitel des Musicals ‚Tutanchamun‘. Inmitten des niederösterreichischen Biedermeiertals erwecken die Festspiele Gutenstein seit dem 3. Juli 2008 den Mythos des Alten Ägypten zum Leben.
Für die Festspiele Gutenstein ist das Musical ‚Tutanchamun‘ gleich in zweifacher Hinsicht eine Premiere: Unter ihrem neuen Intendanten Ernst Neuspiel inszenieren sie erstmals ein Musiktheaterstück und — eine Weltpremiere. Die Musik für ‚Tutanchamun‘ stammt von Gerald Gratzer. Sissi Gruber und Niki Neuspielverfassten das Buch über den jung verstorbenen Pharao, der gerade erst eine Rolle in der ägyptischen Geschichte zu spielen begann, als ihn eine Verletzung das Leben kostete. Dean Welterlen und sein Kreativteam setzten die Welt des Alten Ägypten und das schicksalshafte Leben Tutanchamuns in Szene.
Dem Autoren- und Kreativenteam von ‚Tutanchamun‘ war es besonders wichtig, den historischen Hintergrund korrekt wiederzugeben. Das Ägyptologische Institut der Stadt Wien wurde zur Beratung herangezogen, und so entspricht der historische Ablauf des Musicals auch wirklich dem heutigen Stand der Forschung. Als Kind einer Nebenfrau des umstrittenen Königs Echnaton musste Tutanchamun seinen Thronanspruch durch die Heirat mit einer Tochter der ersten Gemahlin, Nofretete, legitimieren. Seine Gemahlin Anchesenamun war eine Trägerin des königlichen Blutes und die dritte Tochter von Echnaton und Nofretete. Als eine bewusste Entscheidung Tutanchamuns kann man diese Ehe jedoch nicht bezeichnen. Zum Zeitpunkt der Heirat mit seiner Halbschwester war Tutanchamun ja erst neun Jahre alt. In der Jugend des Pharaos spielten Wesir Eje und der Heerführer Haremhab eine wichtige Rolle; nach seinem Tod bestiegen nacheinander beide den ägyptischen Thron. In Sachen Religion bemühte sich der junge König um eine neutrale Haltung. Neben dem Sonnengott Aton, den sein Vater Echnaton rigoros zum einzigen Gott erhoben hatte, setzte Tutanchamun die traditionellen Götter wieder in ihre Rechte ein, allen voran den vorherigen Universalgott Amun. Damit stellte er nach altägyptischem Verständnis die Ordnung im Land wieder her. Mit noch nicht zwanzig Jahren starb der junge Pharao Tutanchamun an einer Verletzung, die er sich durch einen Kampf oder Unfall zugezogen hatte. Das Musical folgt hier den neuesten computertomographischen Untersuchungen an der Mumie, nach denen sich der junge Pharao kurz vor seinem Tod am linken Unterschenkel verletzte. Möglicherweise führte eine Infektion der Wunde zu seinem frühen Tod. Einige weitere Verletzungen erwarb sich der junge Mann zum Teil in früheren Jahren, andere – einschließlich des viel diskutierten Schlags auf den Kopf – sind nach heutiger Erkenntnis der Ägyptologen Folgen des ersten unsachgemäßen Umgangs mit der Mumie unter deren Entdecker Howard Carter.
Die Autoren von ‚Tutanchamun‘ geben sich historisch kaum Spekulationen hin. Im Stück entsteht die Verletzung unterhalb des linken Knies während eines Kampfes des ägyptischen Pharaos mit dem nubischen Herrscher Kashta. Dieser machte Tutanchamun für den Tod seiner Tochter Saamiya verantwortlich. Nubien gehörte jedoch während Tutanchamuns Regierungszeit zum ägyptischen Reich und wurde durch einen Vizekönig von Ägyptens Gnaden regiert. In seinem Grab stießen die Ägyptologen seinerzeit erstmals auf ein Zeugnis für den Pharaonennamen: ‚Tutanchamun‘. Wohl gab es kriegerische Auseinandersetzungen mit Nubien während der Regierungszeit des jungen Pharaos, Tutanchamun selbst nahm an den Kampfhandlungen jedoch nicht teil. In seinem Namen zog General Haremhab in den Kampf gegen die nubischen Aufrührer. Der Name Kashta, den der nubische König im Musical trägt, kommt in der ägyptischen Geschichte erst während der sogenannten Spätzeit (Regierungsbeginn ca. 750 vor unserer Zeitrechnung) vor. Er steht für den Beginn der Herrschaft schwarzer Pharaonen in Ägypten. Kashta eroberte das südliche Oberägypten und unterwarf sein eigenes Land einer Ägyptisierung.
Die Figuren von Kashta (André Wright) und seiner Tochter Saamiya (Kerstin Ibald) entspringen der dichterischen Freiheit, mit der der historische Rahmen in ‚Tutanchamun‘ ausgestaltet ist; in ihrer Darstellung und Einbindung in den Kontext des Stückes sind sie dennoch Figuren ägyptischer Geschichte. Saamiya kommt im zweiten Akt mit Geschenken und Gefolge an den ägyptischen Hof, um den Frieden mit Nubien zu besiegeln. Im Frauenhaus des ägyptischen Königs fanden sich nicht wenige ausländische Herrschertöchter, die zur diplomatischen Absicherung eines Bündnisses mit dem ägyptischen König vermählt wurden. Die Autoren von ‚Tutanchamun‘ haben sich sichtlich mit dem historischen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Erzählung auseinandergesetzt. In Bild und Text taucht das Musical ‚Tutanchamun‘ tief in die Sprach- und Gedankenwelt des Alten Ägypten ein.
Auf dem Weg aus der Gegenwart leiten ägyptische Reliefs den Besucher in die Vergangenheit des Alten Ägypten. Sie stehen vor dem Eingang zum Theaterzelt und bilden einen König beim Opfer vor Amun-Min ab. Amun-Min zeigt eine besondere Seite des Universalgottes Amun: Er präsentiert den Königsgott als Gott der Fruchtbarkeit mit eregiertem Phallus. Die ägyptischen Reliefs mit dem Bild des opfernden Königs finden sich im Bühnenbild von Eduard Neversalwieder. Hier hängen sie wie schwebend an Schienen. Werden sie bewegt, wirken sie leicht wie Vorhänge. In einer frühen Schlüsselszene des Stückes jedoch fungieren sie als Wände, die Königinmutter Teje unbarmherzig von ihrem kleinen Enkel Tutanchamun trennen. Durch die besonders leichte Konstruktion können die Reliefs selbst von Tänzerinnen auf die Seite geschoben werden. Dort bilden sie – jeweils drei gegeneinander versetzt – eine sich nach hinten verjüngende Diagonale. Von diesen Seitenbühnen aus betreten die Darsteller die Hauptbühne, die wie ein Plateau aus langgezogenen terrassierten Treppenstufen gestaltet ist.
Auch Projektionen spielen in ‚Tutanchamun‘ eine wichtige Rolle – ein sehr ungewöhnliches Bild fasziniert gleich am Anfang: die königliche Totenmaske und das menschliche Gesicht verschmelzen miteinander. Eine Seite der Maske verwandelt sich, nimmt menschliche Gesichtszüge an und erstarrt dann wieder in ihrer Goldfassung.Norbert & David Wuchtes 3D-Hintergrund-Projektionen zeigen Fassaden ägyptischer Tempel, inbesondere eines Tempels der Göttin Hathor mit den charakteristischen Säulenkapitellen, die die kuhköpfige Göttin abbilden. Weiter sieht man den Außenhof eines ägyptischen Tempelareals, Innenräume von Tempel und Palast, außerdem das gleißende Band des Nils in seinem Flussbett. Eine besondere Hintergrund-Projektion stellt der Videoschwenk dar, der Tutanchamuns Gang in den Tempel in Szene setzt. Vom sonnendurchfluteten Innenhof geht es immer weiter ins Innere, in dem nur noch Fackeln das Dunkel erhellen und der neunjährige Tutanchamun mit seinen Ängsten allein bleibt. Alle Hintergrundprojektionen sind in dezenten Blau- oder Brauntönen gehalten. Die Reliefelemente und die 3D-Hintergrund-Projektionen ergänzen sich sehr stimmig zu einem harmonischen Ganzen.
Richard Franks Lichtregie nimmt diese Farben mehrfach harmonisch auf und führt sie in der Beleuchtung fort. In Szenen großer äußerer oder innerer Dynamik schafft Richard Frank wirkungsvolle Kontraste durch den Einsatz von Komplementärfarben: Wenn General Haremhab ‚Zug für Zug‘ nach der Macht greift und seine Stärke beweist, umwirbelt ihn lapisblaues und kräftig orangefarbenes Licht.
Bei der Annäherung von Tutanchamun und Anchesenamun betont der gleiche Farbkontrast die prickelnde Dynamik ihrer beginnenden Beziehung. In dieser Szene taucht Richard Frank die Reliefs in Blau und setzt dagegen orangefarbene Akzente. Projektions- und Lichtdesign gehen im Musical ‚Tutanchamun‘ eine Verbindung ein und setzen die Handlung auf eine Art und Weise in Szene, wie wir es bisher in ähnlicher Perfektion eigentlich nur aus der ‚Rebecca‘-Produktion der Vereinigten Bühnen Wien kennen.
Herausragend ist vor allem die Darstellung des Kampfes gegen die aufgescheuchte Nilpferdherde, die das Boot Tutanchamuns zum Kentern bringt, während er vom Nilgott Hapi die ausgebliebene Nilüberschwemmung erbittet. Im Vordergrund wirbelt wild schäumendes Wasser um Felsen, im Hintergrund sieht man den Nil. Zwischen dieser doppelten Videoprojektion bewegen sich Nilpferdtänzer und Pharao. Die Kombination aus Projektion und Lichtdesign setzt eindrucksvoll in Szene, wie Tutanchamun sich inmitten der ihn einkreisenden Nilpferde verzweifelt bemüht, wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen.
Das Lichtdesign übernimmt im Stück auch eine zeichenhafte Funktion. Die Berufung des jungen Tutanchamun wird durch einen Lichtstrahl angezeigt. Nach dem Kampf gegen die Chaosdämonen stehen der siegreiche Tutanchamun und die Kronengöttin Wadjet im Licht hinter dem schlafenden Kinde. Inmitten eines Gitters aus gleißendem Licht tritt der erwachsene Tutanchamun (Jesper Tydén) zum Kind mit dem Bogen (Karoline Vetter). Beide drehen sich, und auf der Bühne bleibt der junge Mann zurück, der den imaginären Pfeil abschießt. Noch einmal zeigt das Licht eine Verwandlung an, als Tutanchamun beschließt, seinem goldenen Käfig zu entfliehen, um für Ägypten endlich wirklich ein Herrscher zu sein – ‚Ich bin das Licht‘.
Immer wieder finden sich in Bühnenbild (Eduard Neversal), Requisiten (Anna Prankl) und an Kostümen (Uschi Heinzl) ägyptische oder ägyptisierende Details. Zu den schon erwähnten Reliefs gesellen sich Säulen mit Palmkapitellen, die an den Seiten der Bühnen aufgestellt sind. Eine Statue von Osiris, dem göttlichen Herrscher der Unterwelt, bewacht die Aufbahrung des toten Pharaos Echnaton. Die ägyptischen Ornamente und Symbole wurden sehr kenntnisreich und umsichtig eingesetzt; so wirken sie nicht nur sehr dekorativ, sondern visualisieren gleichzeitig das ägyptische Weltbild. Direkt aus dem Grabschatz Tutanchamuns entnommen scheinen sein Löwen-Thron, der den König mit seiner Gemahlin beim zärtlichen Miteinander im Garten zeigt und das ägyptische Senet-Spiel. Je nach Stand tragen die Darsteller längere oder kürzere weiße Leinengewänder aus feinerem oder groberem Tuch, die Adeligen schmückt zudem ein Halskragen aus Edelsteinen oder Gold. Bei den Frauen kann man den Stand auch an den Zöpfchenperücken ablesen, die mal mehr, mal weniger verziert sind. Ofir, der ‚Vordererste‘ der Beamten (Harald Tauber), hat zum Ausgleich des barköpfigen Hauptes den ägyptischen Zeremonialbart unter das Kinn gebunden — ein kleiner Fauxpas in der Ausstattung, weil dieser als göttliches Attribut betrachtet wurde und deshalb nur den Pharao zieren durfte. Richtige Bärte trugen zumindest die hochgestellten Ägypter nicht. Wesir Eje (André Bauer) und General Haremhab werden wohl eine Sondererlaubnis des Pharaos besitzen, dass sie ihren Bart behalten dürfen. Auf den Schurzen der beiden königlichen Ratgeber finden sich die geiergestaltige Göttin Nechbeth, Beschützerin des Königtums ebenso wie die geflügelte Göttin Maat, Hüterin der Weltordnung. In einer anderen Szene sieht man die ornamentale Darstellung der Kronengöttinnen von Ober- und Unterägypten. Auf Diadem und Schurz des Königs speien Kobras (Uräen) Feuer gegen das Böse. Eine angedeutete Darstellung zeigt die Vereinigung der beiden Länder durch die Verknüpfung ihrer Wappenpflanzen. Königinmutter Teje trägt eine sehr schön gestaltete goldene Version der unterägyptischen ‚Roten Krone‘. Das Haupt der ‚Großen Königlichen Gemahlin‘ Anchesenamun zieren bei öffentlichen Anlässen die ‚Blaue Krone‘, wie sie die Büste der Königin Nofretete zeigt, ansonsten ein kleines Diadem oder als Priesterin der Hathor eine Applikation der Lotusblume. Auch ihr Gewand ist mit Lotusblüten, der Blume des Lebens, bestickt. Kostümdesignerin Uschi Heinzl beweist auch bei der Kleidung der Priester ihren Einblick in religiöse Zusammenhänge. Der Amun-Priester ist an seinem Leopardenfell erkennbar, der Aton-Priester trägt seinen Gott in Gestalt der Strahlensonne auf seinem goldbestickten Gewand. Wenn die Priester während der Initiation in Göttermasken den Schlaf des jungen Tutanchamun bewachen, kann der Zuschauer den ibisköpfigen Gott der Weisheit (Thot), den schakalgestaltigen Totengott Anubis, den menschengestaltigen Gott Re mit gehörnter Sonnenscheibe auf dem Kopf und den falkengestaltigen Gott des Königtums Horus unterscheiden. Historisch nahezu in jedem Detail korrekte und wunderbar umgesetzte Kostüme und Bühnenelemente erwecken auf der Gutensteiner Bühne das Alte Ägypten wieder zum Leben.
Klagefrauen wiegen sich in wilden Zuckungen, werfen die langen schwarzen Haare vor und zurück und strecken dem Himmel ihre Arme entgegen: Ägyptische Grabmalerei wird lebendig, wenn die grandiosen Tänzer und Tänzerinnen des Ensembles von ‚Tutanchamun‘ die Choreographien von Cedric Lee Bradley umsetzen. Eine besondere Ausdrucksform hat der Choreograph für den existenziellen Kampf gegen die Dämonen des Chaos gefunden. Während der Knabe Tutanchamun nach Genuss eines bitteren Brotes träumt, kämpft sein Ka, die Verkörperung seiner Lebenskraft, gegen die Schlangen-Dämonen der Finsternis. In der choreographischen Umsetzung züngeln die Hände – die rechte Hand wird vibrierend auf Mundhöhe bewegt, der linke Arm mit geöffneter Handfläche nach hinten gestreckt. Obwohl er dem Dämon und seinem Gefolge allein gegenübersteht, nimmt der Ka des Pharaos den Kampf auf. Seine Tapferkeit wird belohnt. Die Kronengöttin von Unterägypten, die Kobra-Göttin Wadjet erscheint. Gemeinsam besiegen der Ka des Tutanchamun und die Göttin das Chaos. Der Kampf besticht durch eine ungewöhnliche Kombination aus Kampfsport und Ausdruckstanz.
Ganz anders die tänzerische Darstellung, als Nilpferde Tutanchamuns Boot zum Kentern bringen: unbeholfen und dennoch auf besondere Weise elegant werden hier die Bewegungen der Tiere nachgeahmt. Elemente des orientalischen Tanzes ‚Raqs al Sharki‘ finden sich in Anchesenamuns Tanz für die Göttin Hathor. Wunderschön umgesetzt von Sabine Mayer ertanzt sich die Königin zwischen Feuerbecken die Kraft, Tutanchamun ihre Gefühle zu offenbaren. In den Choreographien von Cedric Lee Bradley nimmt der Ausdruckstanz Elemente ägyptischer Grabmalerei auf und vereint Tanz und Pose zu einer ästhetischen Harmonie.
Im Musical ‚Tutanchamun‘ trifft die bildreiche Sprache des Alten Ägypten auf moderne Rhythmen aus Orient und Okzident. Komponist Gerald Gratzer setzt als leidenschaftlicher Schlagzeuger deutliche rhythmische Akzente mit Schlagzeug und Percussions. Die orientalischen Töne der Nay werden durch Fagott und Oboe ersetzt, denen die Musiker durch besondere Spielart die charakteristischen klagenden und atmosphärischen Töne entlocken. Und natürlich sind jede Menge Trommeln wie Tabla und Dabuka zu hören. Ergänzt wird das rhythmische Klangbild durch Saiteninstrumente wie Violine, Cello und Kontrabass und Blechinstrumente wie Posaune, Horn und Trompete. Daraus entsteht eine insbesondere in den Instrumentalteilen mitreißende, teils poppige Musik mit orientalischen Beiklängen. Lediglich die Liebesduette fallen zuweilen gegenüber den übrigen Kompositionen etwas ab, doch dank der rockigen und warm timbrierten Stimmen von Sabine Mayer und Jesper Tydén bleiben die aussagekräftigen und bildreichen Liedtexte von Birgit Nawrata und Sissi Gruberim Ohr.
Musiktheater bezieht einen Großteil seiner Faszination aus dem Zusammenwirken von Text und Musik. Im Libretto und teilweise auch in den Liedtexten von ‚Tutanchamun‘ wurden altägyptischen Formeln und Sprachbilder auf einzigartige Weise in unsere Sprache übertragen. Ein Wort wie ‚Vordererster‘, die gekonnte Übertragung des ägyptischen Superlativs von ‚Erster/Vorderer‘ mag im ersten Moment fremd anmuten. Doch die Komik des Sprachduktus wirkt auch im Heute, wenn sich der Oberste der Beamten diesen Hoheitstitel gibt. Ein ganzes Lied ist der Liebe der Ägypter zum komplexen Aufbau des Beamtenwesens gewidmet. Der Ägypter liebte eine klare Ordnung und fürchtete nichts mehr als das Chaos. So hatte auch jeder Beamte seine klar definierte Aufgabe und immer einen Höhergestellten über sich. Welchen Aufstand gibt es im Stück, als Pharao Tutanchamun unerwartet ein Thema in die Ratssitzung einbringt, das gar nicht auf der Tagesordnung stand… Er steht an der Spitze der Ordnung — und muss sich dennoch Regeln und Protokoll unterwerfen. Unsere heutige Bürokratie erscheint dagegen fast harmlos — funktioniert aber keinesfalls besser als die der Alten Ägypter.
Von der guten Herrschaft des Königs hängt das nicht nur Wohl jedes Einzelnen ab, sondern das Schicksal des ganzen Landes. Bleibt die regelmäßige Nilüberschwemmung aus, muss der König sie herbeischaffen. Die Götter, allen voran der Sonnengott, haben ihm bei der Thronbesteigung ‚die Welt in ihrer Länge und ihrer Breite‘ zur Verwaltung übergeben. Mit dieser ägyptischen Bezeichnung für ‚die ganze Welt‘ wendet sich im Stück Gott Amun an den Kindkönig ‚Tutanchamun‘ und vertraut ihm die Herrschaft über Ägypten an.
Auf unterhaltsame Weise vermitteln die gesungenen und gesprochenen Texte viel Wissen über ägyptische Kultur, Königtum und Totenkult und geben Einblick in eine Weisheit, die mit reichlich Humor auf das Leben blickte.
Hinter dem Gesamtkunstwerk von ‚Tutanchamun – das Musical‘ steht Regisseur Dean Welterlen, der mit seinem Kreativteam und einer tollen Cast die Inszenierung in Gutenstein realisiert hat. Trotz der nicht alltäglichen Texte sind bis auf wenige Ausnahmen alle Darsteller gut zu verstehen. Das gestenreiche Spiel des Ensembles vermittelt Komik ebenso authentisch wie dramatische Momente. Die Hauptrollen sind mit erstklassigen Darstellern besetzt, die durchweg in Gesang und Schauspiel überzeugen. Die Gewichtung beider darstellerischer Elemente ist je nach Rolle ganz unterschiedlich.
Harald Tauber als ‚Vordererster‘ der Beamten gewinnt seiner Rolle des ‚Ofir‘ neben umwerfender Situationskomik auch ernsthafte Momente ab. Er spielt den treuen, etwas unsicheren Lehrer und Vertrauten Tutanchamuns, der seinem Schützling als einziger reinen Wein einschenkt. Ofir ist ehrlich, aber nicht mutig. Er zögert lange, bevor er auf Drängen Tutanchamuns zugibt, dass der Pharao in seinem Palast nur der ‚Hofzwerg‘ ist. Schon in Tutanchamuns Kindheit versucht er, den jungen König zu warnen, als die beiden Mentoren Eje und Haremhab über ihre eigenen Pläne für Ägypten sprechen, die eine Herrschaft Tutanchamuns nicht vorsehen.
DIE RATGEBER
‚Eje‘ und ‚Haremhab‘ haben als Ratgeber und Mentoren des jungen Pharaos die Aufgabe, ihn auf seine Herrschaft vorzubereiten. Eje, gespielt von André Bauer,ist ernsthaft bemüht, Tutanchamun zu selbstkritischer Weisheit und Vertrauen in sein Volk zu erziehen. Auch wenn er selbst die Herrschaft erstrebt, freut er sich doch über Tutanchamuns Fortschritte und wachsende Stärke. Für den weisen Ratgeber ist wichtig, dass der junge Herrscher das Wohl des Landes im Auge hat und keine Alleingänge unternimmt. Eje schätzt Königin Anchesenamun, ist sogar heimlich ein wenig in sie verliebt. Deshalb ermahnt er den König auch dringend, beim Opet-Fest nicht zu viel zu trinken, um die erste Begegnung mit seiner Königin nicht zu gefährden. André Bauer spielt den Wesir Eje als scharfsinnigen Mann, der im Hintergrund die Fäden zieht. Es sind die kleinen Gesten, die seine Pläne verraten — wer hätte gedacht, dass der väterliche Ratgeber zum Wohl des Landes sogar den Tod des jungen Herrschers in Kauf nehmen würde. Neben schönen rezitativen Phrasen hat Gerald Gratzer ein besonderes Männerduett für ‚Eje‘ und ‚Haremhab‘ geschrieben. Der Zusammenklang zwischen dem warmen Timbre von Bauers hohem Bariton und dem Poptenor von Rob Fowler lässt aufhorchen und begeistert.
Rob Fowler spielt Haremhab, den strengen Lehrmeister Tutanchamuns und verleiht diesem Charakter eine nie weichende Haltung und enorme Bühnenpräsenz. In seiner Stimme wechseln sich Klarheit und rockiges Timbre ab. Gerald Gratzers Songs scheinen ihm auf den Leib geschrieben und geben auch seinem starken Falsett den nötigen Raum, ganz besonders bei ‚Der Stärkste siegt‘. Haremhab ist fest davon überzeugt, dass ein König vor allem stark und diszipliniert sein muss. Nur dann kann ein Herrscher der göttlichen Weltordnung — der sogenannten Ma’at — dienen. Zudem soll er grundsätzlich allen misstrauen. Haremhabs Credo für seinen Schüler lautet: ‚Vertraue niemandem!‘ Fast jedes Mittel setzt er ein, um den Stolz des jungen Pharaos zu brechen und seine Herrschaft zu verhindern. Haremhab glaubt, zum Wohle Ägyptens zu handeln und damit der göttlichen Weltordnung zu dienen. Er versteht nicht, wie Teje ein egozentrisches Kind auf den Thron setzen konnte. Von einem unbedarften Kind dürfe Ägypten nicht regiert werden. Deshalb versucht er, Tutanchamun am Hof und beim Volk in Misskredit zu bringen. Er macht ihn betrunken, damit ihn seine Frau für immer ablehnt. Doch es gelingt ihm auf Dauer nicht, die beiden zu trennen. Er wird Zeuge ihrer Liebe und konfrontiert den verliebten Pharao unvermittelt mit einer Heirat im Sinne der Diplomatie. Am Hof erscheint Saamiya, die Tochter des nubischen Königs Kashta — vor dem verwirrten Tutanchamun wirft sie sich zu Boden. Sie bringt nicht nur unzählige Geschenke, sondern erwartet, in das königliche Frauenhaus aufgenommen zu werden, um den Frieden mit Nubien zu besiegeln.
Kerstin Ibald ist als Königstochter Saamiya hier in einer reinen Sprechrolle zu sehen. Sie spielt die Prinzessin liebenswert überdreht. Trotz der Funktion als „diplomatisches Pfand“ prägen Leidenschaft und Stolz ihr Auftreten. Als Tutanchamun erfährt, dass auch sie einen anderen Mann liebt, schickt er sie gegen jedes Protokoll und besseres Wissen nach Hause. Haremhab lässt die Prinzessin und ihr Gefolge ermorden und provoziert damit eine Kriegssituation, für die er Tutanchamun, das ‚unreife Kind‘, verantwortlich macht.
Kerstin Ibald verkörpert im Stück gleich zwei Charaktere, die scheinbar kaum unterschiedlicher sein könnten – doch sind beides starke Frauen. Die Sprechrolle der Saamiya erfüllt Kerstin Ibald mit humorvollem Schauspiel und gibt der Figur, die nur kurz die Szenerie betritt, eine anrührende Tiefe.
Als erhabene Königinmutter Teje bietet Kerstin Ibald auch äußerlich das perfekte Bild einer Königin, wenngleich ihre Erscheinung eher der historischen Darstellung der Nofretete als der Tejes gleicht. Teje erweist sich als liebevolle Großmutter des kleinen Tutanchamun. In dem berührenden Lied ‚Sieh nach vorn‘ ermuntert sie den neunjährigen Thronfolger, der bisher in Freiheit aufwuchs, Kraft zu finden, seiner großen Aufgabe gerecht zu werden: ‚Spür das Licht in dir!‘. Teje, der die Hände durch das Protokoll gebunden sind, versucht das ängstliche Kind zu trösten, bevor sich die Tempelwände zwischen beiden schließen. Kerstin Ibalds warme und klare Stimme scheint in dieser Szene den Tempelraum zu erfüllen; ihr eindringliches Schauspiel überzeugt in höchstem Maße.
Sabine Mayer spielt die Große Königliche Gemahlin ‚Anchesenamun‘. Ihre kräftige Popstimme passt trefflich zu den Duetten und Soli der jungen Königin. Zur Zeit unseres Besuches war die Darstellerin bedauerlicherweise gesundheitlich angeschlagen und reichte deshalb stimmlich nicht ganz an ihre sonstigen Höchstleistungen heran. Doch auf der gelungenen Castaufnahme von ‚Tutanchamun‘ überzeugt Sabine Mayer auf ganzer Linie. Ihre Anchesenamun stellt in der Beziehung zu Tutanchamun (Jesper Tydén) den reiferen Part dar. Sie weiß über die Ereignisse im Land besser Bescheid als der vermeintliche Herrscher und ärgert sich über seine Arroganz und Unreife. Während des Opet-Festes, das die ‚Heilige Hochzeit‘ zwischen Gott Amun und seiner Gemahlin Mut feiert, brüskiert Tutanchamun seine künftige Gemahlin, als er sie betrunken empfängt. Anchesenamun hatte sich von ihrem Tag der Wiederbegegnung mit Tutanchamun ihre eigene Hochzeitsnacht erhofft. Aus Achtung vor der verstorbenen Teje löst sie die offizielle Verbindung nicht, straft den unreifen Jungen aber mit Missachtung. Sabine Mayer spielt Anchesenamun als eine Frau, die versucht, ihre Gefühle mit dem Verstand zu kontrollieren. Zunächst will sie nur ein Anknüpfen an die damalige Freundschaft mit dem Halbbruder, erkennt aber schnell, dass sie nicht gegen ihre Gefühle für ihn ankommt. Zukünftig stellt sie ihr Leben und ihre Kraft in den Dienst ihrer Beziehung. In ihrer Zuneigung zu ihm ist jedoch immer ein Moment der Besonnenheit enthalten. Selbst als sie befürchten muss, ihn verloren zu haben, besinnt sie sich zum Wohle des Landes auf ihre Stellung als seine Vertreterin. Ihr Vertrauen in die gemeinsame Liebe ist groß, auch als er sich für den Augenblick der Ewigkeit — zum Sterben — von ihr trennen muss, strahlt sie eine Sicherheit aus, die auch ihm den Abschied erleichtert. Er wird weiterleben, denn sie trägt sein Kind unter ihrem Herzen.
Jesper Tydén spielt die Titelrolle. Er springt mitten im Lied ‚Nun trete ich meine Herrschaft an‘ in die Rolle und setzt buchstäblich in der Bewegung mit der Darstellerin des Kindes Tutanchamun ein. Karoline Vetter spielt diese Rolle berührend, mit erstaunlich sprechender Mimik und schöner Stimme, die live noch authentischer nach einem Jungen klingt als auf der Castaufnahme. Aus der Drehung mit dem Bogen, auf dessen Sehne kein Pfeil liegt, steht ein zugleich unsicherer und selbstverliebter junger Mann auf der Bühne, der glaubt, dass sich alles nur um ihn dreht. Fixiert auf den Kampf gegen seinen Meister Haremhab sieht Tutanchamun nicht, dass er nur das Kind im goldenen Käfig ist, dem man heile Welt vorspielt, während die Herrschaft andere ausüben. Er gibt sich den Frauen hin, die ihm schmeicheln und lässt sich von Haremhab betrunken machen. Erst die Begegnung mit der vernünftigen, reifen Anchesenamun öffnet ihm die Augen.
Jesper Tydén vermittelt die innere Einkehr und Erkenntnis mit starker Mimik und Gestik (‚Ich bin das Licht‘), bringt in seinem Spiel aber auch zum Ausdruck, dass die Einsicht alleine noch keine Wandlung bedeutet. In der zarten Annäherung zwischen Anchesenamun und dem jungen Pharao kommt das mangelnde Selbstvertrauen zum Ausdruck, das die Verliebtheit des Teenagers prägt. In allem folgt Tutanchamun seinen Gefühlen, auch wenn sein Handeln nicht immer zum Wohle des Landes ist. Er öffnet die Kornkammern und befiehlt ein Aussetzen der Abgaben für die Armen, nachdem er Zeuge ihres Elends wurde. Auch folgt er seinem Herzen, als er Saamiya in die Heimat zurückschickt. Nach ihrem Tode tritt er im Bewusstsein, richtig gehandelt zu haben, dem nubischen König allein entgegen. Er will das Geschehene wieder gut machen und keinen ägyptischen Krieger in Gefahr bringen. In der folgenden Kampfszene mit dem nubischen König beeindruckt Jesper Tydén durch Wendigkeit und gute Koordination der Bewegungen. Die Speere gehen oft nur haarscharf am Gegner vorbei. Insgesamt beweist Jesper Tydén im ganzen Stück große Körperbeherrschung.
Tutanchamun besiegt Kashta und schenkt ihm großmütig das Leben. Der nubische König sieht in Tutanchamun einen Träger göttlichen Schutzes und verspricht den endgültigen Frieden zwischen Ägypten und Nubien. Tutanchamun ist jedoch verletzt und der Weg durch die Wüste weit. Nach einem Gebet an die Götter kehrt er zurück nach Ägypten. Pharao und Königin genießen ihr Wiedersehen und versichern sich der gegenseitigen Liebe und des Zusammenhaltes. Durch den Jubel über seine Rückkehr fällt sein gesundheitlicher Zustand zunächst gar nicht auf. Doch er ist so stark verletzt, dass er nicht überlebt. Am Morgen steigt Tutanchamun zwischen zwei Fackeln tragenden Priestern hinab in sein Grab.
Jesper Tydén spielt seinen Tutanchamun sehr menschlich und sympathisch. Er ist kein strahlender Held, sondern ein junger Mann auf der Suche nach seiner Bestimmung, der Fehler macht und aus ihnen lernt. Durch den sanften und dann wieder kraftvollen Einsatz seiner Stimme gelingt es Jesper Tydén, die Höhen und Tiefen in Tutanchamuns Empfindungen wiederzugeben.
In Dean Welterlens Inszenenierung liegt der Zugang zum Jenseits direkt hinter dem Schlafgemach des jungen Paares; der Tod wird durch diese symbolische Darstellung zum Übergang. So versprechen sich die Liebenden beim Abschied ein Wiedersehen, wenn das Licht die Finsternis besiegt. Nach ägyptischem Verständnis vertreibt der Sonnenaufgang Finsternis und Tod. Jeder Morgen bringt neues Leben. Das Finale des Stückes knüpft an diesen Gedanken an. Nacheinander betreten Lebende und Tote die Bühne und singen die Schlusshymne ‚Die Ewigkeit liegt in jedem Augenblick‘, deren Klänge an einen gregorianischen Choral erinnern und eine sehr feierliche Stimmung vermitteln. Inmitten des Chors steht das Grab Tutanchamuns mit geöffneter Grabplatte. Tutanchamun erscheint, das Gesicht hinter der goldenen Mumienmaske verborgen. Er nimmt sie ab, streckt sie in die Höhe und der Mensch ‚Tutanchamun‘ blickt zu der Maske hinauf. Die Ewigkeit liegt in jedem Augenblick — ist zugleich Untertitel und zeitlose Botschaft des Musicals über das Alte Ägypten. Lange vor den Römern mit ihrem ‚carpe diem‘ prägten die Ägypter die Weisheit: ‚Folge Deinem Herzen, solange Du lebst‘ und koste jeden Augenblick dieses Lebens aus, denn es dauert nicht ewig.
Die Erkenntnisse der Vergangenheit gewinnen Geltung für das Heute. Geschichte und Vergangenheit werden eins in dem faszinierenden Musical um den Menschen ‚Tutanchamun‘ und seinen Mythos.